Das Panorama von der Mordaualm wird man so schnell nicht vergessen. Von einem mit kleinen Felsen durchsetzten, buckligen Grashügel gleitet der Blick aufs tieferliegende Tal des Bergsteigerdorfs Ramsau in den Berchtesgadener Alpen. Mächtige Wolkentürme sorgen für ein beeindruckendes Schauspiel. Verbunden mit der Landschaft genießen die Teilnehmer des Yoga auf der Alm in 1.200 Metern Seehöhe die Einführung ins "bewusste Atmen" von Anna Helminger. Als Sennerin und ausgebildete Yogalehrerin hat die gebürtige Chiemgauerin ein besonderes Verhältnis zu Natur und Spiritualität.
"Lass den Atem langsam durch deine Nase tief in die Lungen und in den ganzen Körper strömen. Mach eine kurze Pause, bevor du ausatmest, und spüre, wie sich Ruhe ausbreitet und dich frische Energie durchströmt", ermuntert die 56-jährige Anna beim Selbstexperiment. Der Platz ist wie geschaffen dafür, aufzuladen, zu entspannen und sich Gedanken über das steigende Bedürfnis nach Bergspiritualität zu machen.
Berge machen besonders empfänglich für spirituelle Erfahrungen, sagt Martin Stock. Der evangelische Pfarrer aus Tirol ist sicher: "Der Berggipfel stellt eine Entgrenzung dar. Der Blick geht von den Niederungen des Alltags weg." Wer mit kirchlichen Traditionen verbunden sei, erfahre etwa bei Berggottesdiensten eine besondere Dichte der Erfahrungen und ein Gemeinschaftsgefühl.
Spirituelle Sehnsucht ein Megathema
Eine Beobachtung, die auch Thomas Roßmerkel teilt. Der Tourismus-Chef der Evangelischen Landeskirche in Bayern sagt: "Es gibt in der Gesellschaft eine riesige spirituelle Sehnsucht. Verknüpft mit dem Trend zum Unterwegssein in der Natur ist das ein Megathema." Entsprechend gibt es immer mehr passgenaue Freiluft-Angebote bei Tourismusverbänden, Bildungsträgern oder in der Urlauberseelsorge der Kirchen: Berggottesdienste oder Gipfelpilgertouren sind gefragt wie nie.
Die Suche nach einem höheren Sinn war es auch, die Anna Helminger vor mehr als 14 Jahren zur Ausbildung als Yoga- und Atemlehrerin veranlasst hat. "Ich komme aus der Landwirtschaft, war lange im Bereich der Alten- und Krankenpflege ebenso wie im Fitnessstudio tätig", erzählt sie. Durch die Ausbildungen habe sie gelernt, "selbstbewusst meine innere Klarheit, Wahrheit und Stärke angstfrei zu leben". Die Leichtigkeit weiterzugeben, die sich durch die Verbindung mit der Natur einstelle, sei ihr ein besonderes Anliegen. "Obwohl ich mich auch als Christin verstehe, ist Yoga überkonfessionell und erreicht auch kirchenferne Leute, die auf der Suche nach Sinn und Spiritualität sind."
Die Begeisterung für Yoga verband die bodenständige Wagingerin 2018 mit ihrer Liebe zu den Bergen und der Sehnsucht nach einem einfachen Leben im Einklang mit den Kreisläufen der Natur. Als Sennerin auf der Mordaualm ist ihr Tagesablauf seitdem von Mai bis September von der Versorgung der Tiere, Melken, Butter- und Käsemachen sowie der Bewirtung der Wanderer bestimmt. "Es gibt hier oben auch einen Fleck, an dem ich jeden Abend meditiere. Man riecht die Almkräuter, hört die Hirsche röhren und fühlt sich eingebettet in die Kreisläufe der Natur. Das gibt auch bei einem Gewitterregen Sicherheit", beschreibt sie: "Beim bewussten Atmen ist es, als ob man den Atem Gottes spürt."