epd: Der Bundestag ringt derzeit um ein neues Gesetz zur Suizidassistenz. Sie befassen sich seit Jahren intensiv mit dem Thema und lassen die Öffentlichkeit auch an den unterschiedlichen Auffassungen von Ihnen und Ihrer Frau zu dieser Frage teilhaben. Welche Regelung würden Sie sich wünschen?
Nikolaus Schneider: Mir sind bei diesem Thema einige theologisch-ethische Grundsätze wichtig. Etwa: Die absolute Macht über Tod und Leben gebührt Gott allein. Und: Die unantastbare Würde eines jeden Menschen ist in Gottes Machtbereich gut aufgehoben. Zur konkreten Würde des einzelnen Menschen gehört, dass er - soweit es ihm möglich ist - für sich selber eintreten und über sein Leben selbst bestimmen kann. Und das gilt auch für sein Sterben. Die grundsätzliche Aufgabe von Staat und Gesellschaft sehe ich aber darin, Leben zu schützen. Ich kann mir deshalb nur schwer lebensdienliche Regelungen vorstellen, bei denen der Suizid von Menschen staatlich organisiert wird. Zugleich darf es aber auch keinen Zwang zum Leben geben. Diese Spannung muss ausgehalten werden.
Ist das ein Plädoyer dafür, organisierte Suizidassistenz grundsätzlich zu verbieten und sie nur in bestimmten Extremfällen als Möglichkeit vorzusehen?
Schneider: Schon Karl Barth hat erkannt, dass in bestimmten Grenzfällen der Suizid eines Menschen durchaus im Einklang mit dem Willen Gottes möglich ist. Deshalb plädiere ich für eine legale Suizidassistenz in bestimmten Extremfällen. Für mich gibt es Grenzfälle, in denen Menschen auch zum Sterben geholfen werden sollte, etwa wenn ihr Leben nur noch von Schmerz bestimmt wird. Das 2020 vom Bundesverfassungsgericht kassierte Verbot einer geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung hatte ich so verstanden, dass es in Extremfällen und Ausnahmesituationen möglich ist, Menschen zum Sterben zu helfen. Ich musste allerdings wahrnehmen: Ärzte und Ärztinnen, die sich bei der Suizidassistenz in meinem Sinne verantwortlich verhalten haben, gerieten unter Anklage. Daher fand ich es gut, dass der Paragraf 217 des Strafgesetzbuches vom Bundesverfassungsgericht überprüft wird. Dass dabei gleich das gesamte Gesetz für null und nichtig erklärt wurde, hat mich aber überrascht. Teile der Begründung kann ich nicht nachvollziehen. Für mich ist das Recht auf Selbsttötung nicht unbedingt Ausdruck der Würde des Menschen. Ich finde es irritierend, wenn Selbsttötung und Assistenz zur Selbsttötung als ein Normalfall des Lebens betrachtet werden und nicht mehr als Ausnahme. Das Anrecht auf einen ärztlich assistierten Suizid würde dann in einer Reihe stehen mit dem Recht auf Essen, Nahrung, Kleidung und medizinische Versorgung. Für mich sollte dieses Anrecht aber unter Not- und Extremsituationen eingeordnet werden.
"Ich plädiere für eine legale Suizidassistenz in bestimmten Extremfällen."
Wenn Suizidassistenz erlaubt wird: Soll sie auch in diakonischen Einrichtungen möglich sein?
Schneider: Für mich gibt es theologisch-ethisch zwar ein normatives Nein zu Suizid und Suizidassistenz, aber kein absolutes Nein. Grundsätzlich kann ich mir diese Möglichkeit deshalb auch in diakonischen Einrichtungen vorstellen. Dabei darf es keine Verpflichtungen für das hauseigene medizinische und pflegerische Personal geben. Wenn ein Patient oder eine Patientin einer diakonischen Einrichtung trotz aller palliativen Bemühungen nicht mehr leben will und um eine gesetzlich erlaubte Suizidassistenz bittet, sollen wir ihnen dann sagen: Jetzt musst du dieses Haus verlassen? Eine solche Härte halte ich nicht für richtig. Auch in diakonischen Häusern müssen wir in theologisch-ethischen Entscheidungen mit Spannungen und Uneindeutigkeiten leben.
Ist eine gesetzliche Regelung ohne Grauzone denkbar?
Schneider: Wünschenswert ist zumindest eine möglichst große Klarheit, damit alle Rechtssicherheit haben, die in der Pflege tätig sind und Sterbende oder Schwerstkranke begleiten. Diese Klarheit bot der Paragraf 217 leider nicht in ausreichendem Maße.
Ein Thema, das Sie in Ihren kirchlichen Leitungsämtern immer wieder angesprochen haben, ist soziale Gerechtigkeit. Wie ist es darum aktuell in Deutschland bestellt?
Schneider: Die sozialen Unterschiede sind in den letzten 20 Jahren gewachsen und wir sind nicht mehr die Spitzennation in Sachen Sozialstaatlichkeit, sondern abgerutscht ins Mittelfeld. Das hat mit der Globalisierung und der digitalen Revolution zu tun, aber auch mit falschen politischen Entscheidungen und Entwicklungen. So wurde Wettbewerbsfähigkeit ausgespielt gegen sozialen Ausgleich, das halte ich für fatal. Hier rächt sich auch eine Ideologie des schlanken Staates. Man braucht sich nur mal den Zustand der Schulen, des Schienennetzes oder der Straßen und Brücken anzuschauen, hier gibt es einen riesigen Nachholbedarf. Auch dass Steuern nicht erhöht werden dürfen, ist für mich ein fataler Glaubenssatz. Von einer solchen Politik profitiert vor allem eine kleine Zahl von Vermögenden. Die große Zahl der Menschen im mittleren und unteren Bereich der Gesellschaft hat dagegen die Lasten zu tragen.
"Dass Steuern nicht erhöht werden dürfen, ist für mich ein fataler Glaubenssatz. Von einer solchen Politik profitiert vor allem eine kleine Zahl von Vermögenden."
Die Energie- und Lebenshaltungskosten steigen derzeit rasant. Brauchen wir in dieser Situation mehr Sozialstaat?
Schneider: Wir brauchen mehr gezielte Entlastung: Leute, die schlecht über die Runden kommen, müssen stark entlastet werden. Pauschalsysteme, von denen alle profitieren, sind zwar leichter umsetzbar, sie schaffen aber neue Ungerechtigkeiten. Es ist eine falsche Entwicklung, wenn in der Mineralölindustrie die Gewinne explodieren und sich die Kapitalbesitzer und Anteilseigner eine goldene Nase verdienen und dennoch staatliche Gelder abschöpfen. Vielfach ist der Kompass abhandengekommen, der am Zusammenhalt der Gesellschaft und an Gerechtigkeit für die sogenannten kleinen Leute orientiert ist.
Sich für die "kleinen Leute" einsetzen - das könnte eine Botschaft der Kirchen sein. Wird ihre Stimme noch ausreichend gehört?
Schneider: Ich habe den Eindruck, dass die Stimmen der Kirchen nicht mehr dasselbe Gewicht haben wie noch vor wenigen Jahren. Das hat mit Vertrauensverlust durch Missbrauchsskandale, mit kirchendistanzierten Menschen in öffentlichen und politischen Leitungsfunktionen, aber auch mit schwindenden Kräften der Kirchen durch den Rückgang an personellen und finanziellen Möglichkeiten zu tun.
Erwarten Sie von der Bundesregierung eine Kursänderung für mehr sozialen Ausgleich?
Schneider: Einkommen aus Kapital wird weiterhin schonend besteuert, während Einkommen aus Arbeit die Hauptlast der Steuern trägt. Ich weiß nicht, ob die Ampel-Koalition die Kraft aufbringen wird, hier zu Veränderungen zu kommen. Bei den Entlastungspaketen sind etwa die Rentnerinnen und Rentner bisher außen vor geblieben. Ich hoffe, dass wir mit dem Bürgergeld der sozialen Gerechtigkeit in unserem Land ein Stück weit näherkommen. Es ist ein Armutszeugnis, dass das Bundesverfassungsgericht der Sozialpolitik die Höhe der Grundsicherung vorschreiben musste.
"Es ist ein Armutszeugnis, dass das Bundesverfassungsgericht der Sozialpolitik die Höhe der Grundsicherung vorschreiben musste."
Wie wird sich die gesellschaftliche Rolle der Kirchen entwickeln?
Schneider: Ich hoffe, dass es gelingt, Volkskirche im besten Sinne durchzuhalten. Volkskirche ist für mich eine Kirche, die den Glauben im Alltag lebt und dabei die gesellschaftliche Verantwortung des christlichen Glaubens sieht und realisiert. Also eine Kirche, die Diakonie und politisches Engagement nicht aufgibt und mitten in der Gesellschaft verwurzelt bleibt.
Stärkeren Einfluss haben die Kirchen, wenn sie geeint auftreten. Wie beurteilen Sie den Stand der Ökumene?
Schneider: Die großen christlichen Konfessionen haben immer noch ein großes Maß an gegenseitigem Vertrauen. Leider schaffen wir es aber nicht, die nächste Treppenstufe zu erreichen. Ich denke hier etwa an die Abendmahls- beziehungsweise Eucharistiegemeinschaft und die gegenseitige Anerkennung der Ämter. Das wird auf Dauer als Rückschritt empfunden. Wir brauchen hier einen langen Atem. Die protestantischen Kirchen müssen aber in theologisch-ethischen Fragen ein eigenständiges evangelisches Profil deutlich machen. Hier denke ich etwa an Geschlechtergerechtigkeit und an Fragen der Sexualethik. Eine klare Grenze möchte ich zudem zu solchen Freikirchen ziehen, die sich dem evangelikalen Sektierertum aus den USA anschließen und rechtsnationale Bewegungen unterstützen.
Die Haltungen in der evangelischen Kirche zum Ukraine-Krieg bewegen sich zwischen Pazifismus und Befürwortung von Waffenlieferungen. Ist die Friedensethik reformbedürftig?
Schneider: Ich finde: Angesichts der komplexen politischen Verhältnisse und aller uns zugemuteten Zeitenwenden hat die evangelische Friedensethik eine ziemlich beeindruckende Konsistenz. Wir vertrauen darauf, in friedensethischen Fragen aus dem Wort Gottes Maßstäbe für eine Realpolitik in Kriegszeit zu entwickeln. Allerdings gilt: Wir müssen unsere Maßstäbe immer wieder überprüfen. Die grundlegenden Aussagen der EKD-Friedensdenkschrift von 2007 "Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden sorgen" halte ich nach wie vor für tragfähig. Dass mit Waffen kein Frieden geschaffen werden kann, höchstens die Voraussetzungen dafür, bleibt richtig. Richtig bleibt auch, dass in einem Konflikt militärische Gewalt das letzte Mittel sein muss. Bei allen militärischen Interventionen, auch bei der Lieferung von Waffen, ist zu überlegen: Welche Ziele können mit militärischer Gewalt erreicht werden? Und wie können wir die kriegerischen Auseinandersetzungen beenden?