Auf der ersten Seite eines jedes Asterix-Comicbands findet sich eine Illustration einer postkolonialen Problemstellung. Wir blicken auf das antike Gallien, das von den Römern besetzt ist. Eine riesige römische Standarte hat bereits Risse im Land hinterlassen. Oben links dann die Lupe: Soldaten lagern vor einem Dorf, dessen im besten Sinne des Wortes schlagfertige Bewohnerschaft sich den Römern widersetzt. Die Abenteuer um Asterix und Obelix führen vor Augen, wie Widerstand gelingen kann. Gegen die Besatzer helfen nur Zusammenhalt, List und Tücke und eine gute Portion Kampfkraft.
Die Botschaft der Asterix-Reihe ist hochpolitisch. Das Machtgebaren des Imperiums wird verurteilt und ins Lächerliche gezogen. Die Gallier bleiben Gallier, die Römer spinnen. Der Autor René Groscinny lässt die Römer dabei transparent werden auf den französischen Kolonialismus, mit dem er sich kritisch auseinandersetzt. Manche rassistische Stereotype in den Figurendarstellungen zeigen aber, dass trotzdem koloniale Denkmuster übernommen wurden.
Seit den 1980er Jahren untersuchen postkoloniale Theorien die Entstehung und Folgen des Kolonialismus. Der geisteswissenschaftlichen Strömung geht es darum, Mechanismen der Unterdrückung aufzudecken bzw. zu überwinden und die Stimmen der Unterdrückten hörbar zu machen. Die Forschungsarbeiten zeigen außerdem, dass koloniale Denk- und Machtstrukturen noch lange nach dem Ende von Kolonialherrschaft nachwirken und die Menschen prägen. Zudem zeichnet sich ab, dass der neuzeitliche Kolonialismus verschiedene Vorläufer hatte. Dass vermehrt auch biblische Texte durch eine postkoloniale Brille gelesen werden, hat gute Gründe.
Fremdherrschaft und Ausbeutung in der Bibel
Die Bücher der Bibel erlauben einen seltenen Einblick darin, wie eine verhältnismäßig kleine, antike Gemeinschaft auf die Dominanz von Großreichen reagiert hat: Das Alte Testament ist entstanden, als Ägypten, Assyrien, Babylonien und Griechenland über Israel und Juda geherrscht haben. Die Figuren des Neue Testaments lebten allesamt unter römischer Vorherrschaft, nur kurze Zeit nach Julius Cäsar, der in den Asterix-Comics römischer Kaiser ist.
Zwar gibt es wichtige Unterschiede zwischen modernen Kolonialmächten und den Assyrern oder Römern, doch haben die Menschen in biblischer Zeit über Jahrhunderte hinweg vergleichbare Erfahrungen mit Unterdrückung, Gewalt und Ausbeutung gemacht. Faszinierend ist nun, dass sich in den Texten der Bibel Formen der Auseinandersetzung mit Fremdherrschaft erkennen lassen, die den Beobachtungen von postkolonialen Untersuchungen ähneln. So enthält die Bibel in gleicher Weise Texte, in denen koloniale Vorstellungen mit einer gewissen Faszination aufgenommen werden, wie es auch subversive oder offen kritische Positionen gibt.
Besonders offensichtlich ist die Kritik an Fremdherrschaft zum Beispiel in den Fremdvölkersprüchen der Prophetenbücher oder im Exodusbuch. Hier bleibt kein gutes Haar an den fremden Mächten. Auch die Klagelieder sprechen das durch die Großmächte erfahrene Leid offen an. Wie die Marburger Alttestamentlerin Christl Maier in ihrem jüngst erschienenen Kommentar zum Jeremiabuch mit einer postkolonialen Auslegung zeigt, verharren die biblischen Autoren aber nicht einfach in der Klage. Das Ringen um eigene Handlungsmacht berührt ganz zentrale theologische Überzeugungen, nicht zuletzt die Frage, wie man angesichts der Überlegenheit anderer Mächte überhaupt noch an Gott glauben kann.
Unterdrückte werden zu Unterdrückern
Die Sichtweise der Mächtigen kann jedoch auch nachgeahmt werden. Die Landnahmeerzählung des Josuabuches ist hierfür ein Beispiel. Die Israeliten verhalten sich wie eine Kolonialmacht. Sie kommen von außen in das Land und vernichten weite Teile der indigenen Bevölkerung. Seit Langem nimmt die Bibelwissenschaft an, dass sich das Beschriebene nie so ereignet hat. Israeliten und Judäer waren Beherrschte und nicht Herrscher. Allerdings weisen Untersuchungen auf Parallelen zwischen dem Josuabuch und ägyptischen oder assyrischen Kriegsberichten hin. Auch dort werden Eroberungsfeldzüge als Erfüllung eines göttlichen Auftrags dargestellt. Sollte das Josuabuch diese Texte zum Vorbild haben, ließe sich von Mimikry sprechen. Im Sinne des postkolonialen Theoretikers Homi Bhabha meint Mimikry die Adaption kolonialer Denkmuster durch die Beherrschten. Dadurch können sie ihre eigenen Wünsche und Ansprüche in Worte fassen und sich selbst in die Position der Herrscher bringen.
In der Auslegung neutestamentlicher Texte ist die Darstellung des römischen Großreiches umstritten. In den letzten Jahren sind besonders in den USA Bücher erschienen, die Jesus oder Paulus als antiimperiale Widerstandskämpfer zeichnen. Postkoloniale Ansätze können hier zu vermitteln helfen, indem sie einseitige Lesarten hinterfragen und Räume für Ambiguität eröffnen.
Stephen D. Moores Buch "Empire and Apocalypse" (2006) ist ein gutes Beispiel hierfür. Moore widmet sich dem Phänomen des Widerstands in der Johannesoffenbarung. Er legt dar, wie sich der Autor an der Bildsprache des römischen Weltreiches bediente, um sich kritisch mit Roms Herrschaftsanspruchs auseinanderzusetzen. Jedoch erkennt Moore nicht nur eine Ablehnung römischer Ideologie. Viel eher sei für die Offenbarung eine Spannung zwischen Ablehnung und Aneignung typisch. Zwar werde der Herrschaftsanspruch Roms kritisiert, doch der große Sieg Christi werde letztlich doch nach römischem Vorbild und in imperialer Bildsprache gezeichnet.
Da fast alle Bücher der Bibel in Situationen von politischer Abhängigkeit entstanden sind, ist davon auszugehen, dass in vielen anderen Texten vergleichbare Spannungen und Ambiguitäten zu finden sind. Postkoloniale Theorieansätze können dazu beitragen, einseitige Interpretationsmuster zu überwinden und Nuancen herauszuarbeiten. Gleichzeitig halten sie die biblischen Texte anschlussfähig an die Unterdrückungserfahrungen, die Menschen an vielen Orten der Welt auch heute noch machen.