epd: Sie und Margot Käßmann prägen als protestantische Intellektuelle weit über Ihre Amtszeit hinaus die öffentliche Debatte. Momentan ist es um kirchliche Leitungsfiguren stiller geworden, scheint es. Wie wichtig ist das öffentliche Einmischen für die Kirche?
Wolfgang Huber: Unsere Öffentlichkeit ist viel diffuser geworden. Leitmedien gibt es so nicht mehr, dafür gibt es das Netz - das steht für perfekte Diffusität. Trotzdem wird das Interesse der Öffentlichkeit immer wieder auf wenige Personen konzentriert. Diese Konzentration auf eine Person, beispielsweise die Ratsvorsitzende der EKD, ist nicht besonders protestantisch. Eine Pluralität von Protestanten und Protestantinnen, die öffentlich sprechen, wäre angemessener. Damit sind nicht nur Theologinnen und Theologen oder gar nur "leitende Geistliche" gemeint.
Die Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, Anna Nicole Heinrich, ist ein sehr gutes Beispiel dafür: Sie ist eine junge, ausgesprochen aussagefähige Frau in einem sogenannten "Laien-Amt". Sie ist eine Repräsentantin einer sich zum Guten wandelnden Kirche.
Sie haben als EKD-Ratsvorsitzender 2006 ein Kirchenreformpapier angestoßen. Wenn man das Papier liest, könnte man denken, viel hat sich seither nicht verändert. Hat man es verpasst, sich in wirtschaftlich satten Jahren auf die schwindenden Mitglieder und Ressourcen einzustellen?
Huber: Es ist nicht überzeugend, die Gründe für Veränderungen in der Kirche nur an schwindenden Ressourcen und weniger Kirchenmitgliedern festzumachen. Das sind Rahmenbedingungen. Ja, man hat sich zu stark auf diese Sichtweise eingelassen. Deswegen dachte man, dass man weniger Anlass für Reformen hat, wenn die Kirchenfinanzen sich wieder aufwärts entwickeln, was ab 2009 der Fall war. Und man hat nach einigen Jahren mit vergleichbaren Überlegungen dort wieder eingesetzt, wo damals aufgehört wurde.
Ich hoffe, dass die Veränderungen nicht nur in der Art des Rückbaus sichtbar werden, sondern dass sie auch als Aufbruchssignale wirken. Menschen kann man nur durch Aufbruch für die Kirche gewinnen.
Wie sieht die Kirche der Zukunft aus?
Huber: Wissen Sie, ich empfinde gerade Euphorie über einige gute Gottesdienste, die ich jüngst erleben durfte und die auch Menschen anziehen, die man nicht häufig in der Kirche sieht. Die Menschen fühlten sich aufgehoben und waren überzeugt, sie haben am Sonntag eine Stunde gut verbracht. So etwas passiert in vielen Gegenden. Die Ressourcen dafür, dass das auch weiterhin gelingt, sollten sichergestellt werden.
Wir sind eine offene Kirche, das ist die Voraussetzung dafür, dass wir auch eine öffentliche Kirche sind. Wir sollten so gottesbewusst und selbstbewusst sein, dass wir gute Beispiele gelungener kirchlicher Arbeit weitererzählen und voneinander lernen.
Der Gottesdienst sollte auch in Zukunft Kernstück der kirchlichen Aufgabe sein?
Huber: Der Gottesdienst ist ohne jeden Zweifel ein wichtiges Kernstück. Aber nicht das einzige. Seelsorge und Diakonie sind Wesensmerkmale der Kirche. Auch Bildung ist gerade heute unverzichtbar.
Kernstück des Gottesdienstes ist die Predigt. Müssen Predigten mit einem Wortschatz hantieren, den Nicht-Theologen und Nicht-Christen eigentlich nicht verstehen, oder sollten sie nicht besser mit Inhalt und Wortgewalt neue Menschen anlocken?
Huber: Es kommen überwiegend kirchengeübte Menschen in den Gottesdienst. Aber jeder Gottesdienst sollte so vorbereitet sein, dass auch derjenige, der zum ersten Mal kommt, etwas mitnehmen kann, ja Lust darauf bekommt, erneut dabei zu sein.
Während der Pandemie habe ich Gottesdienste erlebt, die straffer waren als gewohnt. Ich habe daraus gelernt, kürzer und elementarer zu predigen. Ich schäme mich nicht, wenn der Gottesdienst nicht 60, sondern 45 Minuten dauert. Kurze, elementare Predigten - das nehme ich für meine eigene Praxis mit.
"Ich schäme mich nicht, wenn der Gottesdienst nicht 60, sondern 45 Minuten dauert."
Von Dietrich Bonhoeffer stammt das Credo "Wer fromm ist, muss auch politisch sein". Sie hätten ja fast auch mal für den Bundestag kandidiert. Warum haben Sie sich für die Kirche entschieden?
Huber: Ich war immer mit Leidenschaft Theologieprofessor, aber ich fand zugleich: Es kommt der Zeitpunkt, wo Du dafür praktisch einstehen musst, was Du vom Katheder lehrst. 1993 sah es danach aus, dass ich für den Deutschen Bundestag kandidieren konnte. Da kam die Anfrage, ob ich bereit sei, für das Bischofsamt in Berlin-Brandenburg zu kandidieren. Das lehnte ich ab, weil ich einerseits in die Politik wollte und es andererseits für wichtig hielt, dass das berlin-brandenburgische Bischofsamt mit jemandem aus der Ostregion besetzt wurde.
Dann bekamen beide Bischofskandidaten in der Synode nicht die nötige Mehrheit. Die Wahl war gescheitert. Das las ich morgens in der "Rhein-Neckar-Zeitung" und fragte meine Frau: Was ist denn, wenn die mich jetzt nochmal fragen? Sie antwortete: Dann machst Du das. Als ich danach in die Universität ging, erhielt ich den Anruf. Schließlich wurde ich zum Bischof gewählt.
Sie mussten als Berliner Bischof eine östliche und eine westliche Kirche zusammenführen. War das ein Kulturclash?
Huber: Ich habe es immer von einer anderen Seite gesehen: Dieses Bischofsamt ist mit Sicherheit das spannendste innerhalb der EKD. Spannend hat natürlich immer auch mit Spannungen zu tun - und davon gab es nicht wenige. Es war nicht einfach, aber ich bin es hoffnungsvoll angegangen. Die Kirche war der einzige gesellschaftliche Bereich, wo es trotz der deutschen Teilung während der Trennung noch eine gemeinsame Basis gab. Nur im Fall der Kirche war denkbar, dass bei der Erarbeitung einer gemeinsamen Grundordnung die Grundordnung Ost zur Grundlage gemacht wurde. Ich hatte es deshalb im Vergleich mit anderen Akteuren im Vereinigungsprozess leichter.
Zum Thema Garnisonkirche, wo Sie sich viele Jahre als Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung engagiert haben. Nun wollen Sie sich aus Altersgründen von der Aufgabe zurückziehen. Haben Sie damit gerechnet, dass es so viel Widerstand und so viele Unwägbarkeiten beim Wiederaufbau der Garnisonkirche geben wird?
Huber: Den Beschluss zum Wiederaufbau der Kirche hat die Potsdamer Stadtgesellschaft gefasst. Die evangelische Kirche in Potsdam hat daraufhin darauf beharrt, dass es wieder ein kirchlicher Ort wird. Uns war klar, dass das mit erheblichen Konflikten verbunden sein wird, schon weil Max Klaar mit seinem Iserlohner/Potsdamer Glockenspiel andere Vorstellungen hatte. Er wollte einen preußischen Gedenkort, wir als Kirche einen Ort kritischer Geschichtserinnerung. Die Stiftung als Träger fuhr hier immer einen unzweideutigen Kurs.
Die Vorwürfe der Kritiker des Projekts sind an den Haaren herbeigezogen. Es ist bitter, dass diese Debatte so verbissen geführt wird, aber sich davor wegducken, geht nicht. Natürlich sind unsere Kräfte in diesem Projekt durchaus überschaubar, aber jetzt steht schon der Turm bis zur Aussichtsplattform - und dieser Turm ist von zentraler Bedeutung.
Sie waren Theologieprofessor, Kirchentagspräsident, Bischof und Ratsvorsitzender - gibt es ein Amt oder eine Funktion im Protestantismus, das Sie gerne ausgeübt hätten oder noch ausüben würden, wenn Sie könnten?
Huber: Ich bin solidarisch mit meiner Kirche und engagiere mich gerne weiter ehrenamtlich. Ich bin nie auf die Idee gekommen, nach meinem Ausscheiden noch etwas zu tun, was nicht ehrenamtlich ist.