epd: Sie haben jüngst ein Buch über die Ethik der Digitalisierung vorgelegt. Wie sind Sie zu diesem Thema gekommen?
Wolfgang Huber: Es ist eigentlich erstaunlich, dass ich mich nicht schon früher mit der Ethik der Digitalisierung ausführlicher beschäftigt habe. In meinem Buch über Ethik kommt Digitalisierung nicht als eigenständiges Kapitel vor. Ich habe diese Leerstelle bald wahrgenommen. Doch ich hatte als Geisteswissenschaftler gehörigen Respekt vor dem Thema. Davon wollte ich mich aber nicht abschrecken lassen.
Welche ethischen Prinzipien gibt es für Sie für den Umgang mit künstlicher Intelligenz?
Huber: Ich wende die Grundüberlegungen der Verantwortungsethik auf die Digitalisierung an. Verantwortungsethik bedeutet, dass der Mensch das Subjekt der Ethik ist. Er ist im Blick auf die Regeln und Prinzipien rechenschaftspflichtig. Von hoher Priorität sind dabei die künftigen Folgen gegenwärtigen Handelns.
Spielt der Mensch durch die Möglichkeiten der Digitalisierung Gott?
Huber: Das Aufregende an der Digitalisierung ist ja, dass sich das so merkwürdig auseinanderspreizt. Auf der einen Seite wird dem Menschen Göttlichkeit zugetraut. Auf der anderen Seite wird der Mensch entwertet, indem seine Autonomie auf Maschinen übertragen wird. Von dieser Spannung legt Yuval Noah Hararis Buch "Homo Deus" beredtes Zeugnis ab. Erstens ist jedoch die Annahme vollkommen vermessen, dass der Mensch göttlich werden könne. Ebenso abstrus ist die Idee einer durch menschliches Handeln herbeigeführten Unsterblichkeit. Zur Weitergabe des Lebens an eine nächste Generation gehört die Endlichkeit. Für mich sind die Fragen, die die Digitalisierung aufwirft, ein zentraler Grund, in der heutigen Gesellschaft über Gott zu sprechen.
"Es ist extrem leichtfertig, wie die Autonomie des Menschen auf Maschinen übertragen werden soll"
Zweitens ist es extrem leichtfertig, wie die Autonomie des Menschen auf Maschinen übertragen werden soll - seien es autonome Fahrzeuge oder Waffen. Wenn Maschinen in hohem Maß automatisiert sind, ist es umso wichtiger, dass der Mensch für die Regeln, nach denen die Automatisierung eingesetzt wird, Verantwortung trägt. Nur wenn wir selbst noch wissen, welche Regeln gelten, wenn wir die Hoheit behalten, einen automatisierten Vorgang zu beenden, ist die Automatisierung ein Fortschritt.
Ist es für Sie denkbar, dass Algorithmen etwa Überlebenschancen berechnen und Triage-Entscheidungen treffen?
Huber: Es ist wirklich staunenswert, welche Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie es heute in der Medizin gibt, die man früher nicht hatte. Trotzdem ändert das nichts daran, dass die Patientenautonomie gewahrt werden muss und die ärztliche Letztverantwortung nicht infrage gestellt werden darf. Über Diagnose und Therapie darf deshalb nicht maschinell entschieden werden.
Welche Folgen aus diagnostischen Daten für die Lebenschancen eines Menschen gezogen werden, müssen Ärztinnen und Ärzte entscheiden. Das gilt ohne Einschränkung auch für Triage-Entscheidungen. Ebenso ist es nicht vorstellbar, dass Entscheidungen in Strafsachen und rechtlichen Konflikten durch Algorithmen getroffen werden. Technisch ist das möglich, moralisch ist das der helle Wahnsinn.
Für Sie sind die Digitalisierung und ihre Ausprägungen ein Werkzeug des Menschen?
Huber: Ein Werkzeug, für dessen Verwendung der Mensch die letzte Verantwortung trägt. Da muss man auch in der Sprache strikt sein. Wir sollten nicht vom autonomen Auto oder von der autonomen Waffe reden, sondern eher von Automatisierung sprechen.
Seit Beginn des Ukraine-Kriegs beschäftigen ethische Fragen des Krieges die Öffentlichkeit. In Ihre Zeit als EKD-Ratsvorsitzender fällt die Friedensdenkschrift von 2007. Muss man die Denkschrift noch einmal überarbeiten?
Huber: Ich halte das nicht für die vordringlichste Aufgabe. Die Denkschrift von 2007 ist darin nicht überholt, dass sie für alle Situationen, in denen ein Staat - aber auch ein einzelner - legitimerweise im äußersten Notfall Gewalt anwenden darf, die gleichen Kriterien anwendet. Das Ziel ist die Bewahrung und Wiederherstellung des Rechts. Vorrang haben gewaltfreie Mittel. Aber die Alternative zur Gewaltfreiheit ist nicht Nichtstun. Das Gebot "Du sollst nicht töten", schließt mit ein, dass man nicht zuschauen soll, wenn getötet wird, ohne etwas dagegen zu tun. Laut der Charta der Vereinten Nationen gilt die Pflicht, auf Gewalt gegen andere Staaten zu verzichten. Wenn jedoch dagegen verstoßen wird, gilt das Selbstverteidigungsrecht.
"Eine Zeitenwende steht in Deutschland auch in der kirchlichen Friedensethik an"
Wir erleben das gerade mit einer Massivität, die sogar Anlass dazu bietet, von einer Zeitenwende zu sprechen. Eine Zeitenwende steht in Deutschland auch in der kirchlichen Friedensethik an, aber nicht so, dass wir dafür eine neue Denkschrift verfassen müssen. Der auf den Verbrechen des 20. Jahrhunderts fußende deutsche Sonderweg steht uns - auch als Christen - nicht mehr zur Verfügung. Das ist die Zeitenwende friedensethischer Art, mit der wir uns auseinandersetzen müssen.
In der evangelischen Kirche werden in dieser Frage derzeit zwei Positionen öffentlich vertreten: Der EKD-Friedensbeauftragte, der mitteldeutsche Bischof Friedrich Kramer, lehnt Waffenlieferungen an die Ukraine ab und betont die Suche nach friedlichen Konfliktlösungen. Andere betonen das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung, das deutsche Waffenlieferungen einschließt. Sie vertreten demnach die zweite Position?
Huber: Wenn die Friedensdenkschrift von 2007 Recht hat, können wir nicht so argumentieren, wie Herr Kramer das getan hat: Christen in anderen Ländern sollen selbstverständlich Waffen zur Verfügung stellen, nur wir sollen es nicht. Es ist grotesk, dass die Gewalttaten, die unsere Väter verübt haben, uns daran hindern sollten, Menschen beizustehen, die Opfer vergleichbarer Gewalttaten sind. Im Fall der Ukraine gehören sie zudem zu einem der Völker, die im Zweiten Weltkrieg zu den Opfern der von Deutschland ausgehenden Gewalttaten gehörten.
Bei allem Respekt für den Vorbildcharakter einer persönlichen Entscheidung zur Gewaltlosigkeit, diese Gewaltlosigkeit zur unumstößlichen Maxime eines ganzen Landes zu machen, heißt gegebenenfalls, nicht nur für sich, sondern auch für andere auf das Selbstverteidigungsrecht zu verzichten.
Schaden der evangelischen Kirche auf Dauer zwei so unterschiedliche Positionen in dieser Frage?
Huber: In der Tat ist es auf Dauer schädlich, wenn diese Meinungen nicht in ihrem unterschiedlich ethischen Status eindeutig formuliert und aufeinander bezogen werden. Beide müssen in ihrer komplementären Zusammengehörigkeit verstanden werden: Der persönliche Gewaltverzicht als Hinweis auf den erhofften endgültigen Frieden, die Vorsorge für den Fall einer unabwendbaren Verteidigungssituation als Ausdruck der Bereitschaft, nicht "töten zu lassen".
Ich glaube, dass man sich außerhalb des geltenden Völkerrechts stellt, wenn man die persönliche Entscheidung zum prinzipiellen Gewaltverzicht zur Verpflichtung eines ganzen Landes erklärt. Wir müssen diese Debatte führen, aber - das muss ich der Klarheit halber sagen - nicht in dem Sinn, dass beide Positionen für alle Zeiten unverbunden nebeneinanderstehen.