Mitte Dezember vergangenen Jahres verkündete Angelica Dinger bei Twitter ihren Abschied aus der SPD-Parteizentrale. Knapp drei Monate zuvor hatten die Sozialdemokraten nach einer Zeit vieler Wahlschlappen die Bundestagswahl gewonnen. Die neue Regierung unter Kanzler Olaf Scholz (SPD) war genau eine Woche im Amt, als Dinger bei der Partei ihren Aufhebungsvertrag unterschrieb, um bei der Kirche anzuheuern. Seit März ist sie Pfarrerin in der evangelischen Kirchengemeinde am Friedrichshain in Berlin.
Die 36-Jährige bewegte sich viele Jahre zwischen Politik und Kirche. Während des Theologiestudiums engagierte sie sich bei den Jusos. Während der Promotion bewarb sie sich auf die beim SPD-Parteivorstand angesiedelte Referentenstelle für Religionspolitik - und bekam sie. Nach der Promotion vereinbarte sie mit Partei und Kirche, ihr Vikariat berufsbegleitend zu machen. Dinger spricht von "zwei Welten", um dann aber schnell hinzufügen: "Mir ist wichtig, dass diese Welten nicht nebeneinander existieren."
Die alte Welt zeigt sich in Dingers Pfarrbüro noch an der Wand durch den Bundestagskalender, auf dem das ganze Jahr so übersichtlich zu sehen ist. Praktisch sei der einfach, sagt sie. Wichtig sind für sie nun aber nicht mehr die rosa eingefärbten Sitzungswochen des Parlaments. Notizen und Post-its markieren jetzt kirchliche Feiertage und Veranstaltungen.
Praller gefüllt ist der Handkalender. Gottesdienste, Frauenkreis, Trauergespräch, Teamsitzung, Friedensandacht, Gemeindekirchenrat, daneben Mails abarbeiten und irgendwann eine Predigt schreiben: "Manchmal sind die Tage schon lang", sagt Dinger über die Arbeit.
Wenn man sie fragt, was den Arbeitstag in der Gemeinde von dem im Willy-Brandt-Haus unterscheidet, sagt sie trotzdem: "Das Tempo. Es ist anders getaktet." In der Gemeinde passiere viel "dazwischen", sagt Dinger und meint Gespräche am Rande, den Austausch darüber, wie es einem geht. Vielleicht schaffe man auf diese Weise manchmal weniger Tagesordnungspunkte, sagt sie. Dafür sei die Chance größer, Konfliktsituationen gar nicht erst entstehen zu lassen.
Was sie aus Seelsorgegesprächen mit nach Hause nimmt, verarbeitet die Pfarrerin nach eigenen Worten beim Joggen im Berliner Tiergarten oder auch mal im Volkspark, an dessen Enden die Kirchen ihrer Gemeinde liegen. 6.000 Mitglieder hat die Gemeinde. Dinger spricht von einem lebendigen Gemeindeleben. "Nur zu zweit sitzt man im Gottesdienst jedenfalls nie", sagt sie. Bis fast auf den letzten Platz gefüllt ist die Kirche am ersten Juli-Wochenende zum Gemeindefest. Ums Brückenbauen geht es, und Dinger predigt über Konflikte und deren Beilegung im Kleinen wie im Großen.
Zu ihrem Einführungsgottesdienst im März kam Wolfgang Thierse (SPD), wie Dinger erzählt. Der frühere Bundestagspräsident und Katholik war lange Jahre Vorsitzender des Arbeitskreises Christinnen und Christen in der SPD, für den Dinger qua Amt als Referentin für Religionspolitik die Geschäfte leitete. Dort wird man sie vermissen.
Dinger verstehe es, Brücken zu bauen und komplizierte Inhalte aus der Kirche einfach zu vermitteln, sagt Kerstin Griese (SPD), Staatssekretärin im Arbeitsministerium und Vorsitzende des Arbeitskreises. Sie sei aber nun einmal eine "Frau der Kirche", die die Partei auf Dauer nicht habe halten können, ergänzt Griese, die auch dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) angehört.
Unpolitisch wird Dinger nach eigenen Worten im Pfarramt deswegen aber nicht sein. "Natürlich habe ich eine Haltung", sagt sie. SPD-Parteipolitik gehöre für sie aber nicht auf die Kanzel: "Die Bibel gibt mir einen Kompass, aber keine Wegbeschreibung." Rezepte aus der Politik will sie kopieren, wenn es darum geht, Menschen anzusprechen und möglichst für die Kirche zu interessieren. "Das hat was damit zu tun, wie wir reden, wie niedrig wir die Schwellen machen, wie gut wir uns erklären", sagt die gebürtige Westfälin.
Der Mitgliederschwund - mehr als eine halbe Million Menschen verlor die evangelische Kirche 2021 - entmutigt Dinger jedenfalls nicht. Mit ihrem offenen und lauten Lachen verweist sie bei dem Thema auf ihren alten Job bei der SPD: "Meine Erfahrung ist: Totgesagte leben länger."