Ende der 80er Jahre bildeten deutsche Dokumentarfilme über den Protest gegen die Nutzung der Kernenergie fast ein eigenes Genre. Allein über den Widerstand gegen eine Wiederaufbereitungsanlage im oberpfälzischen Wackersdorf gab es gleich eine mehrere Filme, darunter "WAAhnsinn", "Spaltprozesse" (beide 1987) und "Restrisiko oder Die Arroganz der Macht" (1988). Im Lauf der Zeit teilten immer größere Teile der Bevölkerung die Skepsis gegenüber der Atomkraft.
2002 einigten sich die damalige rotgrüne Bundesregierung und die Energieversorgungsunternehmen auf einen Ausstieg aus der Kernenergie, aber der Beschluss wurde vom schwarzgelben Kabinett unter Angela Merkel wieder rückgängig gemacht. Erst die Nuklearkatastrophe im japanischen Fukushima (2011) sorgte bei der Kanzlerin für ein Umdenken. Die erst wenige Monate zuvor beschlossenen Laufzeitverlängerungen wurden zurückgenommen; stattdessen sollten die Kraftwerke bis Ende 2022 nach und nach abgeschaltet werden.
Soweit die Theorie; doch dann hat Russland die Ukraine überfallen, und ausgerechnet ein grüner Wirtschaftsminister wird nun angesichts drohender Engpässe bei der Energieversorgung mit der Forderung konfrontiert, die Kraftwerke am Netz zu lassen. Dieser Aspekt spielt in Carsten Raus Film jedoch gar keine Rolle: "Atomkraft Forever" ist keine spontan entstandene Dokumentation, sondern ein Dokumentarfilm, der offenbar längst fertig war, bevor die aktuelle Diskussion einsetzte; die derzeitige Verknappung des russischen Gases ist daher gar kein Thema. Dennoch hat der Film seine Berechtigung, denn die Aspekte, mit denen sich Rau befasst, werden auch dann noch einer Antwort harren, wenn der Ukraine-Krieg beendet ist.
Der Titel bezieht sich weniger auf die Vermutung, dass wir die Kernenergie dem beschlossenen Ausstieg zum Trotz doch nicht mehr loswerden, sondern auf eine nach wie vor ungelöste Frage, um die sich die Konzerne nie wirklich gekümmert hat: Wohin mit dem Atommüll?
Außerdem ist es ja nicht damit getan, die Kraftwerke abzuschalten, sie müssen auch "zurückgebaut" werden. Der Begriff deutet an, wie kompliziert der entsprechende Vorgang ist: Wegen der Strahlung ist es nicht möglich, kurzerhand mit der Abrissbirne anzurücken. Viele Bereiche müssen buchstäblich in Handarbeit zerlegt werden, und das dauert, wie Rau am Beispiel des Kraftwerks in Greifswald dokumentiert. Es wurde 1990 abgeschaltet und 1995 endgültig stillgelegt. Damals begann der Rückbau, der noch längst nicht beendet ist.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Und doch ist der Abriss bloß ein Wimpernschlag im Vergleich zu dem Zeitraum, den die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) im Blick haben muss. Eine BGE-Geologin spricht in Raus Film von einer Million Jahre. Die Dimension dieser Größenordnung wird ein klein wenig deutlicher, wenn man weiß, dass in dieser Zeit mit zehn Eiszeiten gerechnet wird. Um alle denkbaren Unwägbarkeiten auszuschließen, soll der Müll in 500 Meter Tiefe gelagert werden; und selbstredend nicht in Gebieten, in denen Vulkanausbrüche oder Erdbeben drohen.
Rau hat seinen Film in mehrere Kapitel unterteilt; für jedes findet sich eine Hauptfigur. Der Autor selbst hält sich komplett zurück. Zwischendurch sorgen Schrifttafeln für zusätzliche Hintergrundinformationen, aber einen Kommentar gibt es. Deshalb bleiben viele Äußerungen scheinbar unwidersprochen, etwa die Aussage eines französischen Redners bei einer Konferenz, der die deutsche Haltung zur Kernenergie lächerlich findet. Frankreich ist der größte Atomstaat in der EU.
Auch hierzulande mehren sich die Stimmen, die zumindest für eine Verlängerung der Laufzeiten in Deutschland ist. Der Direktor der Netzleitwwarte in Brauweiler bei Köln, die den Stromfluss in weiten Teilen Europas überblickt, betrachtet den Ausstieg als einen "Versuch, dessen Ende noch offen ist". An manchen Tagen, sagt er, stamme der deutsche Strom zu 95 Prozent aus erneuerbaren Energien; an anderen Tagen bewege sich der Anteil im niedrigen einstelligen Prozentbereich.
Einige seiner Kapitel hätte Rau auch kürzen können. Dem BGE-Geschäftsführer dabei zuzuschauen, wie er sich in seiner Limousine durchs Land chauffieren lässt, trägt weitaus weniger zum Erkenntnisgewinn bei als etwa ein Besuch im schwäbischen Grundremmingen, wo man den Atomausstieg sehr bedauert: Der örtliche Reaktor hat der Gemeinde zu erheblichem Wohlstand verholfen.
Am eindrucksvollsten sind jedoch die Impressionen aus Greifswald. Daher passt es ins Bild, dass der für den Rückbau zuständige Ingenieur das letzte Wort hat: Das Restrisiko bei der Stromerzeugung durch Kernspaltung sei nicht tragbar, die Stilllegung der Kraftwerke daher die logische Konsequenz.