Annette Kurschus, die auch Präses der westfälischen Kirche ist, sagte dem in Bielefeld erscheinenden "Westfalen-Blatt" (Montag): "Es gibt aber einzelne Fälle, in denen eine Pfarrperson aus besonderen seelsorglichen Gründen davon abweicht und dies mit ihrem Gewissen vertritt." Solche "seelsorglichen Gründe" seien allerdings keine Allerweltsgründe.
Die leitende Theologin kritisierte, dass in den Medien das Wort "Lindner-Zeremonie" zu lesen sei, wo ein Gottesdienst gemeint sei. "Wir sind beileibe nicht knauserig mit Gottes Gaben. Aber fest steht: Sakrament und Segen sind niemals eine Ware, die wir wohlfeil anbieten", unterstrich Kurschus. Es könne der Eindruck entstehen, man könne die Kirchensteuer sparen, aber bei Bedarf kirchliche Dienste wie ein Event buchen. So sei es aber nicht. "Sonderangebote für Reiche und Wichtige zu machen, ist nicht unser Ding und wird es auch nie sein", sagte Kurschus.
Zur kirchlichen Trauung Lindners und Lehfeldts am vergangenen Samstag erklärte Kurschus, sie habe nur eine Meinung zu Dingen, deren Sachverhalt sie genau kenne. "Ich weiß zum Beispiel nicht genau, ob Herr Lindner oder Frau Lehfeldt vor der Trauung Kirchenmitglieder waren oder wurden", sagte Kurschus. Zu den Aufgaben im Traugespräch gehöre ausdrücklich, die Möglichkeit eines Kircheneintritts anzusprechen. Die Pfarrerin in Keitum habe entschieden, die beiden zu trauen. "Und ich muss ihr vertrauen, dass sie dies nach dem Gespräch mit dem Paar nach reiflichem Nachdenken getan hat." Ein solches Gespräch unterliege der seelsorglichen Verschwiegenheit.
Am vergangenen Samstag hatten Lindner und Lehfeldt in der evangelischen Kirche St. Severin in Keitum auf Sylt geheiratet, obwohl sie keiner Kirche angehören. Der evangelische Bischof von Schleswig und Holstein, Gothart Magaard, hatte die kirchliche Trauung verteidigt. Zwar sehe die Lebensordnung der Nordkirche vor, dass bei einer Trauung mindestens ein Partner Mitglied sein soll. Ausnahmen lägen jedoch im Ermessen des Seelsorgers.
Die evangelische Theologin Margot Käßmann hatte in ihrer Kolumne für "Bild am Sonntag" kritisiert, hier sei es nicht um christlichen Inhalt, sondern um eine Kulisse gegangen.
Flügge: Kirche hätte nicht so in "Neiddebatte" geraten müssen
Hätte die Kirche Lindner eine Rechnung ausgestellt, "wäre der Eindruck der Ungerechtigkeit vermieden worden, weil Kirchenmitglieder eine Leistung finanzieren, welche die Brautleute als Nicht-Mitglieder gratis beanspruchen", sagte der Publizist Erik Flügge dem Evangelischen Pressedienst. "Hätte sich die Kirche die Kosten für Personal, Musik und Gebäude bezahlen lassen, wäre sie in der Neiddebatte rund um die Hochzeit wohl weniger in den Fokus der Kritik geraten."
Die Kritik entzünde sich auch an Christian Lindners Parteimitgliedschaft. "Die FDP ist eine Organisation, die glaubt, dass der Markt Dinge über den Preis regelt", erläuterte Flügge. Im Wertesystem der evangelischen Kirche hingegen stehe Solidarität an erster Stelle. Angesichts dieses Gegensatzes hätte die Kirche "rechtzeitig den mentalen Hebel umlegen" und zum marktliberalen Lindner sagen müssen: "Wenn du unsere Solidarität beanspruchst und damit in unseren Rahmen gehst, dann gehen wir umgekehrt auch in deinen Rahmen und rufen dafür einen Preis auf."
Die geistliche und theologische Glaubwürdigkeit der Kirche sieht Flügge hingegen nicht beschädigt. "In der Kirchengeschichte war es schon immer so, dass Hochzeiten von Staatsleuten eine politische Dimension hatten und man es mit dem religiösen Ernst der Brautleute besser nicht zu genau genommen hat", gab der Politikwissenschaftler zu bedenken.
Indem die Brautleute ein starkes religiöses Symbol suchten, komme immerhin ein religiöses Grundbedürfnis zum Tragen. Vermutlich profitierten Kirche und Christentum dabei sogar: "Der Bundesfinanzminister und sein ganzes Umfeld begeben sich im Traugottesdienst in einen spezifisch religiösen Kontext. Das ist doch wünschenswert", sagte Flügge.
Pollack: Kirchenfern, aber Segen erwünscht
Der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack sieht die Hochzeit als "ein Zeichen unserer Zeit". Die Mehrheit der Menschen sei mittlerweile kirchenfern, wolle aber auf den Segen Gottes nicht verzichten, sagte er. Pollack zeigte sich überzeugt, dass Lindners Kirchenaustritt dem religiösen Anliegen nicht per se widerspreche. Bei seiner Vereidigung als Minister habe Lindner die Formel "So wahr mir Gott helfe" gesprochen, sagte der Soziologe. Viele Menschen, auch Kirchenmitglieder, könnten heutzutage mit der Kirche nicht viel anfangen, seien aber trotzdem an ihrem Segen interessiert. "Sie wollen die Möglichkeit nicht ausschließen, dass es etwas gibt, das über das Irdische hinausgeht und auf dessen Wohlwollen sie angewiesen sind."
Die Kritik, wonach sich die Kirche in Keitum habe instrumentalisieren lassen, hält Pollack für überzogen. Der Fall veranschauliche das doppelte kirchliche Anliegen, für ihre Botschaft einzutreten und sich dabei nicht dem Zeitgeist anzupassen, aber auch offen für möglichst viele zu sein. "Die evangelische Kirche ist dezidiert keine autoritär agierende Institution, die sich abschließt und von oben nichts als die Wahrheit verkündet, sondern eine dialogische Institution, die in allem die Bedürfnisse der Menschen im Blick behalten will", sagte Pollack. Sie würde ihrem Auftrag untreu, wenn sie zwei Menschen den Segen verweigerte, die um ihn bitten.