Die Zehn Gebote seien in den ersten Jahrhunderten der Verschriftlichung lange nicht so in Stein gemeißelt gewesen wie vermutet, erklärte der Münsteraner Bibelforscher Cornelis de Vos in einer verbreiteten Mitteilung des Exzellenzclusters "Religion und Politik" an der Universität Münster. "Gruppen von Juden und Christen veränderten sie zuweilen." So habe etwa die eine Gruppe das Tötungsverbot verschärft, eine andere das Ehebruchverbot um sexualethische Normen erweitert.
Zahlreiche antike jüdische, christliche und heidnische Schriftsteller hätten wie viele ihrer Zeitgenossen die Begierde als Wurzel allen Übels gesehen und "eine gewisse Abneigung gegen Sexualität" gehegt, erklärte der Forscher, der eine Untersuchung sämtlicher überlieferter jüdischer und christlicher Texte aus der Frühzeit der Zehn Gebote veröffentlicht hat. "Die Texte fügten eine Reihe sexueller Praktiken hinzu, die als verwerflich galten und verboten werden sollten: Hurerei, Knabenschänderei, Homosexualität, Abtreibung oder das Töten von Neugeborenen aus Mangel an Verhütungsmitteln."
Die samaritanischen Juden hätten beispielsweise Einfügungen direkt am Originaltext vorgenommen, erläuterte Forscher. Sie hätten die Zehn Gebote der Tora zunächst zu neun verdichtet. Vermutlich gegen Ende des zweiten Jahrhunderts vor Christus hätten sie ein neues zehntes Gebot hinzugefügt. Damit hätten sie den Bau eines Heiligtums auf dem Berg Garizim in Samaria in Konkurrenz zum jüdischen Tempel in Jerusalem legitimieren wollen. Das sei eine bewusste Abgrenzung von der Mehrheit der Juden gewesen.
Die Zehn Gebote sind eine Reihe von Geboten und Verboten des Gottes Israels in der Hebräischen Bibel in Form von direkter Rede Gottes an sein Volk. Dort stehen sie an zwei Stellen in leicht unterschiedlicher Version (2. Mose 20 und 5. Mose 5). Die Gebote des Dekalogs wurden vermutlich über mehrere Jahrhunderte mündlich überliefert, bevor sie aufgeschrieben wurden.
In seiner Studie habe de Vos sämtliche jüdische und christliche Quellen von etwa 300 vor Christus bis 200 nach Christus untersucht, die auf den Dekalog zurückgriffen, erklärte die Universität. Die Untersuchung ist unter dem Titel "Rezeption und Wirkung des Dekalogs in jüdischen und christlichen Schriften bis 200 n. Chr." im Verlag Brill in Leiden und Boston erschienen.
Dieser Text wurde erstmalig am 4. November 2016 auf evangelisch.de veröffentlicht.