Beide Seiten sind sich einig: Das Urteil des Obersten Gerichtes der USA am Freitag leitet eine Zeitenwende ein. Es hat das seit beinahe einem halben Jahrhundert geltende Recht auf Abtreibung annulliert. In zahlreichen Bundesstaaten ist Schwangerschaftsabbruch umgehend strafbar geworden, so wie in Alabama, Arkansas, Kentucky, Louisiana, Missouri, Oklahoma und South Dakota. Den Bundesstaaten fällt nun allein die Hoheit darüber zu.
US-Präsident Joe Biden verurteilte die Entscheidung. Nie zuvor in der US-Geschichte habe das Oberste Gericht "ausdrücklich ein Verfassungsrecht weggenommen, das so grundlegend ist für viele Amerikaner", sagte der Demokrat. Vorgänger Donald Trump feierte das Urteil hingegen als "den größten Sieg für das Leben in einer Generation".
Trump hatte konservative Richter:innen ernannt
Tatsächlich trägt wohl kaum ein Politiker so viel Verantwortung für das Urteil wie der republikanische Ex-Präsident. Er hat die zwei Richter und eine Richterin ernannt, die am Freitag den Ausschlag gegeben haben. Bei der Wahl 2016 war Trump anfangs nicht der Wunschkandidat konservativer Christen. Mit seinem felsenfesten Kurs gegen Abtreibung und seinem Versprechen, entsprechende Richter zu ernennen, hat er diese einflussreiche Wählergruppe jedoch an sich gebunden.
Diese Richter haben nun geliefert. Mit sechs zu drei Stimmen ließen sie ein Gesetz im Bundesstaat Mississippi zu, das Abtreibungen erschwert, und kippten damit ein historisches Urteil von 1973 zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. "Roe v. Wade" hatte Abtreibungen bis zur unabhängigen Lebensfähigkeit des Fötus legalisiert, mit der Begründung, Schwangerschaftsabbruch sei durch das Recht auf die Privatsphäre gedeckt.
In den maßgebenden Teilen des Richterspruchs von Freitag hieß es, die Entscheidung über Abtreibung liege bei gewählten Volksvertretern. Konkret: Die Parlamente der fünfzig Bundesstaaten werden Abtreibungsgesetze schreiben. Etwa die Hälfte, besonders im Süden und Mittleren Westen, werde Schwangerschaftsabbrüche verbieten oder stark einschränken, erwarten Organisationen für Familienplanung.
In manchen Punkten bleibt Unsicherheit, etwa beim Umgang mit Abtreibungspillen. Auf Grund einer Biden-Reform von 2021 dürfen die Mittel per Post verschickt werden. In manchen Staaten haben republikanische Politiker derweil Gesetze ins Gespräch gebracht, um Frauen und Helfer zu bestrafen, die zum Schwangerschaftsabbruch in einen anderen Staat reisen.
Freude bei Bischöfen und weißen Evangelikalen
Freude herrschte bei römisch-katholischen Bischöfen und weißen evangelikalen Christen. Die katholische Bischofskonferenz lobte den "historischen Tag". Die Bischöfe beteten nun, dass Politiker "Gesetze schreiben zum Schutz der Verwundbarsten". Baptistenprediger Franklin Graham lobte bei Fox News, das Urteil sei "das bedeutendste zu seinen Lebzeiten".
Drei demokratisch regierte Staaten an der Westküste -- Kalifornien, Oregon und Washington -- kündigten an, "Zufluchtsstaaten" sein zu wollen. In einem Grundsatzpapier erklärten die Gouverneure Kevin Newsom, Kate Brown und Jay Inslee, sie würden den Zugang zu Abtreibung erweitern und das Vorgehen anderen Staaten gegen Frauen, die abtreiben wollen oder müssen, nicht unterstützen.
Die Präsidentin des Familienplanungsverbandes Planned Parenthood, Alexis McGill Johnson, sagte im Rundfunksender NPR, sie werde in jedem Bundesstaat gegen restriktive Gesetze kämpfen, und "Abtreibung steht auf dem Stimmzettel im Herbst". Im November wählen USA Gouverneure und Kongressmitglieder. Theoretisch könnte der Kongress das Recht auf Abtreibung per Gesetz garantieren. Noch gibt es dafür keine Mehrheit. Biden sagte, an die Wähler gerichtet, "sie haben die endgültige Entscheidung".
Mehrheit der US-Bürger für Recht auf Abtreibung
Der langjährige und erbitterte Kampf der Abtreibungsgegner gegen das "Roe v. Wade"-Urteil hat zunächst gefruchtet. Und das, obwohl laut Umfragen die meisten US-Amerikanerinnen und Amerikaner gegen eine vollständige Aufhebung des fast 50-jährigen Richterspruchs sind - laut CNN im Mai 66 Prozent. Die Abtreibungsgegner haben offenbar effektiver mobilisiert. Das Oberste Gericht ist freilich auch die Instanz, die von Republikanern eingeführte Wahlgesetze toleriert, die manche zu den Demokraten neigenden Wähler diskriminiert.