Nach Antisemitismusvorwürfen gegen die "documenta fifteen" mehrt sich die Kritik an der Leitung der Kunstausstellung. Der hannoversche Landesbischof Ralf Meister verwies gegenüber dem Evangelischen Pressedienst darauf, dass bereits seit Monaten über antisemitische Tendenzen bei den Kuratorinnen und Kuratoren der documenta diskutiert werde.
"Ich hätte mir früher ein entschiedenes Eingreifen der Verantwortlichen gewünscht, ein solches Bild hätte nie öffentlich ausgestellt werden dürfen", betonte Meister mit Blick auf das antisemitische und israelfeindliche Motive zeigende Werk "People's Justice" des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi.
"Unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit auch nur im Ansatz das Existenzrecht Israels in Frage zu stellen und mit Kunstwerken antisemitische Stereotypen zu verbreiten, ist der documenta nicht würdig", kritisierte Meister. Zugleich zeige sich aber, dass es auch in der Kunstszene antisemitische Strömungen gebe, denen sich die Gesellschaft entschieden entgegenstellen müsse, betonte Meister.
Der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Johann Hinrich Claussen, hat pro-palästinensische Propagandafilme im Programm der documenta kritisiert. Die Filme würden weitgehend unkommentiert gezeigt und die Herkunft und Verbindung der Filme zu der linksextremen und antisemitischen Terrorgruppe Japanische Rote Armee nicht problematisiert, sagte Claussen dem Evangelischen Pressedienst.
"Wütend, enttäuscht und verletzt"
Der Aufsichtsrat der documenta hatte nach erheblichen Protesten und einer zwischenzeitlichen Verhüllung des umstrittenen Werks "Peoples's Justice" angekündigt, das monumentale Banner abbauen zu lassen. Das Bild zeigt unter anderem einen Mann in Anzug und Krawatte, mit haifischartigen Raffzähnen und einer Zigarre. Eine angedeutete Schläfenlocke hängt herunter, auf dem Hut prangt die SS-Rune. Auf einem anderen Detail wird unter einem Kanonenrohr eine Person in Uniform gezeigt, sie trägt die Nase eines Schweins, das bei gläubigen Juden als unrein gilt. Auf dem roten Halstuch ist der Davidstern zu sehen, auf dem Helm der Name des israelischen Geheimdienstes Mossad. Das für die Arbeit verantwortliche Künstlerkollektiv "Taring Padi" hatte erklärt, das Werk stehe "in keiner Weise mit Antisemitismus in Verbindung".
"Ich bin wütend, enttäuscht und verletzt. Als Oberbürgermeister und als Stadt fühlen wir uns durch die antisemitischen Motive beschämt", sagte Christian Geselle (SPD), Kasseler Oberbürgermeister und Aufsichtsratsvorsitzender der documenta. "Es ist ein immenser Schaden für unsere Stadt und die documenta entstanden." Es müsse nun aufgearbeitet werden, wie es zur Installation kommen konnte. "Trotz ihrer Bekenntnisse ist die künstlerische Leitung der documenta fifteen ihrer Verantwortung nicht nachgekommen, dafür zu sorgen, dass Antisemitismus, Rassismus sowie jede Art von Diskriminierung keinen Raum hat", kritisierte der Aufsichtsratsvorsitzende.
"Fassungslosigkeit" in der jüdischen Welt
Vor der Entscheidung bei der documenta hatten Politikerinnen wie Kulturstaatsministerin Claudia Roth und die hessische Kunstministerin Angela Dorn (beide Grüne) die Entfernung des Kunstwerks gefordert. Scharfe Reaktionen kamen auch aus der jüdischen Welt. "Überlebende des Holocausts verfolgen die desolaten Entwicklungen um die documenta fifteen mit Fassungslosigkeit", sagte der Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, Christoph Heubner.
Antisemitismus habe auf der documenta, in Kassel und in der Gesellschaft nichts verloren, betonte Geselle. Dennoch dürfe die "documenta fifteen" nicht unter Generalverdacht gestellt werden. "Ich wünsche mir ein ehrliches, sachliches Podium der kritischen Auseinandersetzung, des offenen Diskurses und des voneinander Lernens."
Antisemitismus ist Teil der Moderne
Der Soziologe und Gründungsdirektor des documenta-Instituts, Heinz Bude, hat die Vorgänge um die antisemitischen Darstellungen als "die größte Beschädigung der Marke documenta seit ihrem Bestehen" bezeichnet. Das sei ein Fazit, das man schon jetzt ziehen könne, sagte er auf einer Veranstaltung der Universität Kassel zum Thema "Holocaust und Postcolonial Studies: Fragen, die sich wissenschaftlich nicht lösen lassen".
Der israelische Soziologe Natan Szaider sagte, er hätte sich gewünscht, dass das Bild nicht entfernt würde. Antisemitismus sei ein integraler Bestandteil der Moderne, der nicht wegpädagogisiert werden könne. Juden müssten lernen, mit diesem Phänomen zu leben und damit umzugehen.
Die Entfernung des Kunstwerkes löse das Problem nicht. Er hätte es hingegen gut gefunden, wenn Vertreter der Künstlergruppe vor diesem "Bild der Schande" Besuchern erklärt hätten, was sie damit bezwecken wollten. "Es ist eine Illusion, dass man Antisemitismus aus dem öffentlichen Raum entfernen kann", begründete Szaider, der unter anderem auch Mitherausgeber des Buches "Neuer Antisemitismus?" ist, seine Ansicht. Der Abbau sei feige, weil er sich nicht dem Problem stelle.
Claussen vermutet "gezielte Provokationen"
Die vom EKD-Kulturbeauftragten Claussen kritisierten Propagandafilme stammen aus dem Umfeld des früheren japanischen Linksterroristen und Regisseurs Masao Adachi. Adachi war Mitglied der Japanischen Roten Armee, die linksterroristische Vereinigung verübte 1972 einen Selbstmordanschlag auf den Flughafen in Tel Aviv, bei dem 26 Menschen starben und viele weitere verletzt wurden.
Adachi sei Führungskader der Japanischen Roten Armee gewesen und werde zudem mit guten Gründen verdächtigt, Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi gewesen zu sein, betonte Claussen. Diese Gruppe sei heute vergessen, aber historisch wichtig, weil sie die erste linksterroristische Gruppe einer ehemaligen "Achsen-Macht" des Zweiten Weltkriegs gewesen sei, die Terroranschläge in Israel verübt habe.
"Wir haben es hier nicht nur mit der Verbreitung antisemitischer Klischees zu tun, sondern mit der Präsentation von Propagandafilmen aus einem anti-israelisch-terroristischen Kontext", sagte Claussen. "Mir scheint inzwischen, dass es sich hier um gezielte Provokationen handelt."
Das Kollektiv Subversive Film hat die Filme, die nun auf der documenta zu sehen sind, restauriert, heißt es auf der Internetseite der Weltkunstausstellung. Die Film-Fragmente gäben Auskunft über die "weitestgehend übersehenen und nicht dokumentierten 'antiimperialistischen Solidaritätsbeziehungen' zwischen Japan und Palästina", heißt es dort weiter.
Die Bischöfin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Beate Hofmann, forderte eine Aufarbeitung. "Antisemitische Äußerungen dürfen nicht geduldet werden. Es ist wichtig, sie zu identifizieren und zu bekämpfen, weltweit", sagte sie. Die eindeutige Absage an alle Formen des Antisemitismus schränke die Freiheit der Kunst nicht ein, sondern müsse Teil des postkolonialen Diskurses werden.