Den vierminütigen Videoclip haben die Reporter schon vor vielen Wochen vorbereitet und immer wieder in ihrem Fernsehprogramm eingespielt: Wie man über "Virtual Private Networks" (VPN) im Internet surfen kann, wird darin auf Russisch erklärt - eine Methode, staatliche Sperrungen zu umgehen und die besuchten Webseiten zu verschleiern. "Seit dem vergangenen Jahr wurde uns klar, dass unsere Webseiten in Russland geblockt werden könnten", sagt Jamie Fly im Rückblick. Er ist Präsident des Senders Radio Free Europe/Radio Liberty, der von Prag aus unzensierte Informationen in jene Teile der Welt ausstrahlt, in denen die Pressefreiheit eingeschränkt ist - wie in Russland.
Seit dem Ukraine-Krieg hat Russland die Kontrolle über Medien im Land massiv verschärft; Instagram und Facebook sind verboten; Google News ist blockiert. Der russische Präsident Wladimir Putin hat die Verwendung des Begriffs "Krieg" im Zusammenhang mit dem Angriff auf die Ukraine unter Strafe gestellt. Bei Zuwiderhandlung drohen bis zu 15 Jahre Haft.
Der Name Radio Free Europe ist so etwas wie eine Nachrichtenmarke, unter der etliche Medien zusammengefasst sind. Current Times etwa heißt der Fernsehsender, der von der Prager Zentrale aus für ein russischsprachiges Publikum arbeitet und 24 Stunden pro Tag auf Sendung ist, vor allem im Internet. Current Times verzeichnet seit dem russischen Überfall eine gewaltige Steigerung der Zugriffszahlen; allein in den ersten Tagen seien russischsprachige Videos des Senders insgesamt rund 800 Millionen Mal abgerufen worden.
Senderzentrale gleicht Hochsicherheitstrakt
Insgesamt umfasst das Sendegebiet von Radio Free Europe 23 Länder; Programme gibt es in 27 verschiedenen Sprachen, von russisch bis afghanisch und syrisch. Finanziert wird der Sender vom US-amerikanischen Kongress.
Die Prager Zentrale des Senders gleicht einem Hochsicherheitstrakt, umgeben von Stahlzäunen und Kameramasten. Der riesige Quader ist um ein überdachtes Atrium gebaut. Dort, in der Mitte, finden sich einige der Fernsehstudios und ein offener Newsroom, die Büros sind in den seitlichen Gebäudeteilen untergebracht.
Die große Herausforderung von Sender-Chef Fly: Er muss den Sender mit seinen 600 Journalisten und 1.200 freien Mitarbeitern auf die Zeitenwende einstellen. Denn tatsächlich versucht Russland, die russischsprachigen Programme im Netz komplett zu blocken - sein Büro in Moskau musste Radio Free Europe auf politischen Druck hin inzwischen ebenfalls aufgeben. In der Ukraine sind allerdings nach wie vor zahlreiche Reporter vor Ort. "Wir berichten Stadt für Stadt über diesen Krieg, auch nach Russland", sagt der Sender-Präsident.
"Kontext zeigen, Hintergründe erklären"
Beim Sender arbeiten etliche Ex-Mitarbeiter von staatlichen russischen Fernsehkanälen. Einer von ihnen ist Gründungs-Chefredakteur Kiryl Sukhotski, der in Belarus geboren ist und nach seinem Studium in London lange für die BBC gearbeitet hat. Heute ist Sukhotski bei Radio Free Europe Regionaldirektor für Europa.
Bei einem Gespräch im Jahr 2018, kurz nach Gründung von Current Times, sagte er, dass er bei Diskussionen über die russische Propaganda oft an seine Kindheit in Minsk zurückdenke. "Wenn das Staatsfernsehen damals den Westen gezeigt hat, dann gab es immer nur diese Bilder von Obdachlosen, die an einer Suppenküche um etwas Essbares anstehen." Für ihn sei das zum Synonym der Propaganda geworden: Klar, es gebe im Westen Obdachlose und Suppenküchen - aber eben nicht nur. "Wir wollen in unserem Programm deshalb den Kontext zeigen, Hintergründe erklären."
Mit der zunehmenden Zensur in Russland fühlen sich viele bei Radio Free Europe an den Kalten Krieg erinnert. Damals war die Zentrale noch in München, und dort entstand ein Radioprogramm, das über den Eisernen Vorhang hinweg in den jeweiligen Landessprachen in die kommunistischen Länder ausgestrahlt wurde. Die Machthaber gingen damals mit Störsendern auf den Radiofrequenzen gegen die Verbreitung vor, es wurde ein Katz- und Mausspiel zwischen den Radiomachern und den kommunistischen Regierungen.
"Was wir gerade sehen, ist die moderne Form einer alten Taktik", sagt Sender-Präsident Fly. Genau deshalb sei er aber auch zuversichtlich: "Wir haben über viele Jahrzehnte hinweg gesehen, dass Menschen hungrig nach Informationen und Nachrichten sind und sich nicht gänzlich auf staatliche Propaganda verlassen wollen." Diese Erfahrung mache ihm Mut, dass das auch im heutigen Russland wieder genauso sein wird.