Herr Kurkow, wie geht es Ihnen gerade?
Andrej Kurkow: Der erste Schock über den Beginn des Krieges ist für mich schon vorüber. Ich verstehe jetzt, dass es das alte Leben nicht länger geben wird. Und ein neues Nachkriegs-Leben gibt es noch nicht. Wir wissen nicht, wann es kommen wird. Zusammen mit meiner Familie wurde ich zum Flüchtling, wie Millionen anderer Ukrainer. Ich befinde mich in der Westukraine, wo auch russische ballistische Raketen hinkommen, aber viel seltener. Hier ist es sicherer, aber die Sirene ertönt jede Nacht mehrmals.
Wie gehen Sie als Schriftsteller mit dem Krieg um? Schreiben Sie noch?
Kurkow: Ich habe aufgehört, Prosa zu schreiben und schreibe nur Artikel und Essays über die aktuelle Situation in der Ukraine, über die russische Aggression, über Mut und Fatalismus, über Flüchtlinge und Freiwillige. Ich versuche, der Welt so viel wie möglich über die Ukraine und darüber zu erzählen, was gerade in unserem Land passiert.
Haben Sie als Präsident des ukrainischen PEN mit anderen Autoren und mit Verlagen Kontakt? Was tun die im Moment?
Kurkow: Der PEN Ukraine arbeitet - wie während der Pandemie - hauptsächlich online. Wir haben mehrere Dialoge über den Krieg mit Kollegen aus den USA und Großbritannien organisiert. Zudem haben wir begonnen, Geld für die ukrainischen Schriftsteller zu sammeln, die sich jetzt in einer schwierigen Situation befinden. Wir haben dazu ein Konto bei einer polnischen Bank eröffnet.
"Ich habe viele Wörter, schreibe mehrere Texte am Tag"
Am schlimmsten sind unsere Kollegen in den besetzten und umkämpften Städten betroffen. Seit einigen Tagen erhalten wir keine Nachrichten mehr von einem Kollegen aus Melitopol, das von russischen Truppen erobert wurde. Eines unserer ältesten Mitglieder, der Journalist Mykola Semena (71), ist jetzt in Polen. Ein weiteres PEN-Mitglied, der aus Donezk geflohene Schriftsteller Wladimir Rafeew, versteckt sich im Keller eines Hauses im Dorf Klawdijewo bei Kiew, wo zurzeit gekämpft wird. Wir haben vereinbart, dass er von dort nach Kiew gebracht wird, aber während der Kämpfe können die Autos nicht dorthin fahren. Wir versuchen, mit allen in Kontakt zu bleiben.
Die in Wien lebende ukrainische Autorin Tanja Maljartschuk hat neulich gesagt, sie sei keine Schriftstellerin mehr, denn der Krieg richte die Worte zugrunde. Können Sie das nachvollziehen?
Kurkow: Mir geht es genau umgekehrt. Ich kann keine Prosa schreiben, aber ich habe viele Wörter. Sowohl Worte als auch Wut. Und ich schreibe mehrere Texte am Tag. Ich denke, wenn der Krieg vorbei ist, werde ich alles, was ich während des Krieges geschrieben habe, in einem Buch veröffentlichen.
Die Forderung des PEN Ukraine nach einem Boykott russischer Literatur ist im Westen auf Kritik gestoßen. Halten Sie es für gerechtfertigt, dass die deutschen Verlage russische Autoren und Autorinnen boykottieren, die ihrerseits gegen das System Putin kämpfen und den Krieg verurteilen?
Kurkow: Wir werden dafür kritisiert, dass wir uns für den Boykott der gesamten russischen Kultur einsetzen, bis der Krieg vorbei ist. Auch wird uns unterstellt, dass wir Hass-Rede verbreiten. Internationale Organisationen wie der Salon du Livre de Paris schlagen vor, dass wir mit Vertretern der russischen Kultur und Literatur über den Krieg und die Ukraine sprechen. Doch hat es Aussöhnungsgespräche zwischen sowjetischen und deutschen Schriftstellern während des Zweiten Weltkriegs gegeben? Ich habe keine solchen Informationen gefunden. Solange der Krieg andauert, wird es solche Gespräche zwischen ukrainischen und russischen Schriftstellern nicht geben.
Wir wissen, dass nicht alle russischen Schriftsteller die Aggression Putins unterstützen. Daher schlage ich eine "Weiße Liste" mit Namen russischer Kulturschaffender vor, die sich nicht gescheut haben, die Stimme gegen Putin und den Krieg in der Ukraine zu erheben. Unterstützen wir diejenigen, die uns unterstützen!
"Endlich begreifen, was der Unterschied zwischen Russland und der Ukraine ist"
Und noch ein Satz zu Tolstoi, Puschkin und Dostojewski: Niemand verbrennt ihre Bücher in der Ukraine. In der Ukraine werden Bücher überhaupt nicht verbrannt. Stattdessen verbrennt und bombardiert die russische Armee ukrainische Museen, Kirchen und Gedenkstätten. Darunter auch Babyn Yar, wo die Nazis 1941 33.000 Juden erschossen, und das Slowo-Gebäude in Charkiw, ein Denkmal für ukrainische Schriftsteller der 1920er und -30er Jahre, die fast alle von der stalinistischen Geheimpolizei hingerichtet wurden.
Was können deutschsprachige Verlage und die deutsche Literaturszene zur Unterstützung der Ukraine tun?
Kurkow: Die Ukraine braucht Unterstützung und Hilfe. Von deutschen Verlegern und Lesern würde ich mehr Interesse an ukrainischer Literatur und an ukrainischen Sachbüchern erwarten. Es ist sehr wichtig, dass so viele Bücher wie möglich über die Ukraine erscheinen, damit deutsche Leser die ukrainische Geschichte verstehen lernen und endlich begreifen, was der Unterschied zwischen Russland und der Ukraine, zwischen Russen und Ukrainern ist.