Der Migrations-Experte Gerald Knaus hat einen Plan für die rasche Verteilung der ukrainischen Kriegsflüchtlinge innerhalb Europas gefordert. Bislang gebe es keine nennenswerten Versuche, Flüchtlinge aus den Grenzstaaten wie Moldau, Rumänien oder der Slowakei per Flug zu verteilen, sagte Knaus dem Evangelischen Pressedienst (epd). Deutschland plant nach Auskunft des Auswärtigen Amts, Moldau zu entlasten.
In Moldau, einem der ärmsten Länder Europas mit rund 2,4 Millionen Einwohnern, sind bislang nach Angaben des Auswärtigen Amts mehr als 300.000 Flüchtlinge aus der Ukraine angekommen. 100.000 Menschen würden aktuell in Moldau untergebracht und versorgt.
Damit sei der Staat an der Belastungsgrenze, sagte Knaus. Das seien zudem mehr Flüchtlinge, als etwa Österreich im Zuge der Migrationskrise 2015 aufgenommen habe. Die Bundesrepublik will in Moldau angekommene Kriegsflüchtlinge aufnehmen, wie Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) ankündigte. Derzeit werde nach einer pragmatischen Lösung, etwa mithilfe von Bussen, gesucht, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amts am Montag.
Knaus fordert Luftbrücke für Flüchtlinge
Knaus fordert ein weitergehendes Eingreifen. Die Grenzstaaten müssten nicht nur in der Aufnahme unterstützt, sondern auch durch eine europäische Mobilisierung mittels einer Luftbrücke, die Flüchtlinge in alle aufnahmebereiten Städte Europas bringe. Ohne eine solche Sofortmaßnahme komme auch Deutschland mit der Zahl der Weiterreisenden schwer zurecht, sagte Knaus.
Reiseunternehmen, Fluglinien oder das Militär könnten die Aufgabe des Transports übernehmen: "Dabei müssen wir hier in den Dimensionen der Berliner Luftbrücke von 1948 denken - und dies als Geschichte weitererzählen, die das Beste in uns hervorbringt. Denn Empathie ist eine Ressource, die durch das Erzählen von Geschichten wächst. Mit der richtigen Organisation kann sie Berge versetzen."
Größte Flüchtlingswelle der Welt seit 1945
Knaus sieht die Welt durch den Ukraine-Krieg vor der größten Flüchtlingskatastrophe seit 1945. "Die letzte vergleichbare Fluchtbewegung waren die zehn Millionen Menschen, die 1971 bei der Gründung von Bangladesch nach Indien geflohen sind." Grund dafür sei die brutale Art der Kriegsführung, die die Armee des russischen Präsidenten Wladimir Putin auch bereits in Tschetschenien, Syrien und in der Ostukraine betrieben habe: "Er lässt Städte belagern und Infrastruktur zerstören. Das führt immer zu enorm hohen Zahlen von Vertriebenen, weil es so brutal ist."
In Tschetschenien mit 1,4 Millionen Einwohnern habe Putins Krieg im Jahr 2000 ein Viertel der Bevölkerung innerhalb weniger Monate vertrieben, sagte Knaus: "Wenn man das auf die Ukrainer anwendet, dann wären das zehn Millionen ukrainische Flüchtlinge. Diese werden in andere Länder Europas kommen."
Deutschland habe ein humanitäres, moralisches, politisches und nationales Interesse, dass dies funktioniere, und könne dazu beispielsweise in einer G7-Initiative einen Koordinator ernennen. Knaus ist Gründungsvorsitzender der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative (ESI) und gilt als Vordenker des EU-Türkei-Abkommens von 2016.
Die Zahl der in Deutschland registrierten Flüchtlinge aus der Ukraine stieg auf rund 147.000. Bis Montag seien 146.989 Menschen von der Bundespolizei verzeichnet worden, sagte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums. Da es keine Kontrollen an der Grenze zu Polen gibt und Menschen mit ukrainischem Pass ohne Visum in die EU einreisen können, liegt die tatsächliche Zahl vermutlich höher.
Empathie gegen politische Destabilisierung
Durch die EU-Massenzustromrichtlinie sei eine Basis zur erleichterten Aufnahme von schutzsuchenden Ukrainer:innen geschaffen worden. "Doch die Schwierigkeiten beginnen erst", betonte Knaus. Wenn die EU keine Luftbrücke organisiere, mit Tausenden Flügen noch vor Ende März, dann irrten sehr bald Millionen durch Europa auf der Suche nach einer Unterkunft. Bereits jetzt habe Europa in nur zwei Wochen wesentlich mehr Menschen aufgenommen als 2015, sagte der Migrationsforscher.
"Die Putin-Freunde in Europa warten nur darauf, dass der Empathie-Moment vergeht, um sich dann auf die Schwierigkeiten zu stürzen", sagte Knaus. Das Ziel von Putins Politik sei eine politische Destabilisierung europäischer Demokratien. Dem müsse eine freiwillige organisierte Aufnahme, aufbauend auf der breiten europaweiten Empathie, entgegensetzen. "Es braucht dazu auch den moralischen Druck, aber der muss positiv sein. Die EU kann nicht zwangsweise Flüchtlinge verteilen, das haben wir gelernt", sagte er. Es sei ein weltweites Zeichen, dass Europa es im Notfall ernst meine mit seinen Werten.