Der russische Angriffskrieg werfe die Frage auf, ob die evangelische Friedensethik in ihrer über Jahrzehnte gewachsenen Gestalt den neuen Herausforderungen gewachsen sei, sagte der in Berlin lehrende Professor. Die Entspannungspolitik und damit das Ende des Kalten Krieges habe sie zwar in gewisser Weise mitbewirkt. Doch schon die brutalen Kriege in Tschetschenien und Syrien hätten vor Illusionen über die Weltlage warnen können.
"Wir waren zu naiv und haben den zivilisatorischen Effekt der grausamen Geschichte des 20. Jahrhunderts überschätzt", sagte Markschies. "Zudem müssen wir schmerzlich erkennen, dass wir die Bedrohung durch totalitär verfasste Staaten in Europa unterschätzt haben. Pazifismus ist an dieser Stelle keine Antwort."
Immerhin zeige der ukrainische Widerstand, dass Gewalt nicht mit bloßer Gegengewalt beantwortet werden müsse. "Das Streben nach Selbstbestimmung, der Zusammenhalt und der Galgenhumor der Ukrainer, mit dem sie mitunter den russischen Soldaten begegnen: Hier werden Alternativen zu einer Spirale der Gewalt sichtbar, die lange im Zentrum evangelischer Friedensethik standen."
Als Beispiel nannte der Theologe das Twitter-Video, in dem ein ukrainischer Autofahrer einem russischen Panzerfahrer anbietet, ihm den Weg zurück nach Russland zu zeigen. Auch das Übermalen von Straßenschildern zeuge von dieser Fantasie der Ukrainer. Manche Wegweiser seien vollständig mit "Den Haag" überschrieben worden.
Doch auch die Renitenz im russischen Volk müsse gesehen werden, sagte Markschies. "Mut, Einsatz und Zivilcourage der Menschen in Russland sollten wir nicht für die eigene PR ausschlachten, aber doch taktvoll unterstützen." Der Theologe verwies auf die rund 7.000 Wissenschaftler in Russland, die vergangene Woche einen kritischen Brief gegen den Krieg unterzeichnet hatten.
"Bei denen allen ist die Polizei schon vorbeigekommen, teilweise auch bei ihren Eltern", betonte er. Auch russische-orthodoxe Priester hätten mit Unterschriften-Sammlungen gezeigt, dass sie mit Pro-Kriegs-Kurs des Moskauer Patriarchen nicht einverstanden seien.