"Ich möchte keinen Krieg, Oma und Opa sind in Russland, jetzt kann ich sie nicht mehr besuchen", sagt Dunja. Die fünfjährige Berliner Halb-Russin hat ein buntes Schild mit einer großen gelben Sonne, bunten Blumen und einem Friedensengel gemalt, das sie bei der Anti-Kriegs-Demonstration vor sich her trägt. "Wenn meine Freunde in Russland demonstrieren, werden sie zur Polizei gebracht", sagt Dunjas Mutter Katja. Mittlerweile sei es dort verboten, sich auf Facebook und Instagram gegen den Krieg zu äußern.
An diesem kalten und sonnigen Berliner Wintertag quillt der Tiergarten zwischen Brandenburger Tor und Großem Stern vor Menschen aller Generationen über. Besorgte Gesichter, entschlossene, zornige und erschütterte Mienen: Sie alle eint die Empörung auf den russischen Angriff auf das Nachbarland. Mitten in Ansprachen, Musik wie John Lennons "Imagine" mit seinem Wunsch nach Frieden, Diskussionen und dem Strömen der Menschenmassen ertönt irgendwann aus Lautsprechern der Aufruf, eine Schweigeminute für die Menschen in der Ukraine einzulegen.
Ein nahezu unheimliches Schweigen macht sich breit. Hunderttausende verharren für einen Augenblick in der Stille. Danach geht es weiter. Der Vertreter einer Ärzteorganisation warnt von der Bühne weit entfernt vor der Gefahr eines Angriffs auf ein Kernkraftwerk in der Ukraine, der weitreichende Folgen hätte.
"Wir setzen ein Zeichen"
"Wir warnen seit 20 Jahren vor dieser Entwicklung", sagt Danil Y. vor einem Lautsprecherturm. Die Familie des 36-Jährigen ist halb ukrainisch, halb russisch. "Seit drei Tagen ist diese Entwicklung Realität", sagt er bitter. Er hält ein Plakat mit der Aufschrift "Schröder abschalten jetzt" in die Höhe. Seine Kiewer Freundin zweifelt, ob die Demonstration etwas bewirken kann. "Aber wir setzen ein Zeichen, wir ermutigen die Russen zu protestieren", sagt die 34-jährige Daria P. Ohne sie komme es nicht zu Veränderungen. Beide hoffen, "dass die Menschheit jetzt endlich aufgewacht ist".
Ein US-amerikanischer Doktorand an der Berliner Charité erzählt, er wolle nach Polen fahren, um ukrainischen Flüchtlingen mit Nahrungsmitteln und Medikamenten zu helfen. Ein Paar aus Tibet demonstriert für eine freie Ukraine. Ein 70 Jahre alter Berliner beschreibt die Lage als "alptraumhaft". Den russischen Präsidenten Wladimir Putin nennt er einen alten verbitterten Mann, der wegen seines Machtstrebens Menschen in den Tod schicke.
Nicht nur auf der Straße, auch bei den Abgeordneten des Bundestags, die am Sonntag zu einer Sondersitzung in Berlin zusammengerufen wurden, gab es den Wunsch, ein gemeinsames Zeichen gegen den Krieg in der Ukraine zu setzen. Auf Bitten einiger Parlamentarier luden die beiden großen Kirchen zum Friedensgebet am frühen Sonntagmorgen. Rund 40 Abgeordnete kamen. Versammelt um eine Kerze mit einer Schleife in den Farben der ukrainischen Flagge beteten sie für Frieden, Sicherheit und Schutz für Frauen, Männer und Kinder.
Eine Demonstrantin fragt einen Mann, der einen Kinderwagen vor sich herschiebt: "Erste Demo?" Der Vater antwortet stolz: "Erste Demo." Der russische Angriff auf die Ukraine scheint für viele Eltern eine gute Gelegenheit zu sein, ihren Kindern eine erste Lektion in Demokratie zu erteilen.