epd: Im Ukraine-Konflikt wird politisch und medial von einem drohenden "Krieg" gesprochen. Dabei wird in der Ostukraine schon seit Jahren gekämpft. Wie ist das völkerrechtlich zu bewerten?
Helmut Aust: Das Völkerrecht verwendet den Begriff Krieg als solchen heute gar nicht mehr, aber es regelt das, was wir in der Realität als Krieg verstehen. Dabei gibt es zwei Komplexe: einmal das Recht, das Gewaltanwendung verhindern soll, also das Gewaltverbot der UN-Charta und die dort vorgesehenen Ausnahmen. Und es gibt das humanitäre Völkerrecht, das die Art und Weise der Gewaltanwendung regelt, die in einem bewaffneten Konflikt erlaubt ist. Im Hinblick auf die Situation in der Ukraine muss man sagen, dass hier schon seit 2014 Gewalt angewandt wird. Es also nicht so ist, dass man von einem Friedenszustand in einen Kriegszustand übergehen würde, wenn Russland weitere Truppen in die Ostukraine entsendet, sondern es wäre eine Intensivierung eines existierenden internationalen bewaffneten Konflikts.
epd: Wie ist Russlands Anerkennung der Separatistengebiete als "Volksrepubliken" zu bewerten?
Aust: Das ist ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht. Die Ukraine ist weiterhin in ihrer territorialen Integrität durch das Völkerrecht geschützt und Russland ist an das Gewaltverbot gebunden. Die Anerkennung der abtrünnigen Gebiete stellt einen schwerwiegenden Eingriff in die Integrität und Unversehrtheit der Ukraine dar. Es ist auch zu befürchten, dass dies nur ein Vorwand war, um weitere russische Soldaten auf Grundlage einer vermeintlichen Einladung eines fremden Staates zu entsenden oder um einen Anschluss an das Territorium der Russischen Föderation vorzubereiten. Das gesamte russische Verhalten war übrigens stets darauf ausgerichtet, die Sachlage möglichst zu verunklaren - zum Beispiel durch Nicht-Kennzeichnung von militärischem Material und Truppen.
"Die Anerkennung der abtrünnigen Gebiete stellt einen schwerwiegenden Eingriff in die Integrität und Unversehrtheit der Ukraine dar."
Was kann die Ukraine jetzt tun?
Aust: Das Völkerrecht lässt eine Reihe von Maßnahmen zu, um auf diese Rechtsbrüche zu reagieren. Die Ukraine kann sich auf ihr Recht berufen, auf dem eigenen Territorium Aufstände zu bekämpfen und einen russischen Angriff im Wege des Selbstverteidigungsrechts abzuwehren. Auch dürfte der Staat im Falle eines bewaffneten Angriffs Russlands auf die Ukraine um kollektive Selbstverteidigung nachsuchen. Drittstaaten dürften die Ukraine also dann unterstützen. Der UN-Sicherheitsrat wird wegen der Veto-Macht Russland sicher blockiert sein. Deshalb müssen Drittstaaten oder regionale Organisationen wie die Europäische Union mit Wirtschaftssanktionen und anderen Gegenmaßnahmen auf den russischen Völkerrechtsbruch reagieren.