In Köln tut man ja gern so, als habe man Frohsinn und Toleranz erfunden, aber beim organisierten Karneval hört der Spaß auf. Deshalb hat sich Jürgen Werner, übrigens nicht etwa Düsseldorfer, wie man angesichts der Geschichte von "Tanzmariechen" vermuten könnte, sondern ein Schwabe, mit diesem "Tatort" aus dem Jahr 2017 in der Domstadt vermutlich nicht viele Freunde gemacht; auch wenn es sicher Menschen gibt, denen er mit seinem Fasnachtskrimi aus dem Herzen spricht.
Dabei trägt sich die Handlung nicht mal während der närrischen Tage, sondern Anfang November zu, aber dank Werner lernt man, dass das weltberühmte Kölner Grundgesetz um einen weiteren Merksatz erweitert werden müsste: Nach dem Karneval ist vor dem Karneval. Außerdem verteilt der Autor diverse Seitenhiebe an den auch außerhalb der Region berüchtigten Kölschen Klüngel, der beim organisierten Karneval selbstredend eine ganz besondere Rolle spielt.
Die Geschichte erinnert von Ferne an einen "Tatort" aus Münster ("Ein Fuß kommt selten allein", 2016), denn auch sie spielt im Tanzsport-Milieu. Im Prolog stürzt sich ein Mädchen von einer Rheinbrücke. Die eigentliche Handlung setzt wenige Monate später ein und stellt die Tanztruppe des Karnevalsvereins "De Jecke Aape" (die verrückten Affen) vor, die fast unter Leistungssportbedingungen trainiert; kein Wunder, dass von Spaß am Tanzen keine Rede sein kann.
Wie in dem Krimi aus Münster geht es um Ehrgeiz, Eitelkeit und Eifersucht. Beim Ballett träumt jedes Mädchen davon, die Primaballerina zu werden, hier heißt das große Ziel Tanzmariechen, und zumindest in Werners Geschichte sind einige der jungen Frauen bereit, für ihren Traum über Leichen zu gehen: Evelyn, die Selbstmörderin aus dem Prolog, war das frühere Tanzmariechen, aber sie ist so lange gemobbt worden, bis sie sich das Leben genommen hat; nun kämpfen zwei andere um den Platz im Scheinwerferlicht.
Ballauf und Schenk (Klaus J. Behrendt, Dietmar Bär) müssen sich sehr zum Unmut von Ballauf, der "mit dem ganzen Pappnasengedöns nichts anfangen kann", auf das Milieu einlassen, weil es eine weitere Tote gegeben hat: Die ehrgeizige Trainerin der "Jecke Aape" ist erschlagen worden.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Regisseur Thomas Jauch ist es schon bei "Ein Fuß kommt selten allein" ausgezeichnet gelungen, die Tanz-Amateure in die Truppe zu integrieren. Das klappt auch diesmal wieder hervorragend. Gerade Sinja Dieks profitiert dabei von der Tanzausbildung, die sie einst genossen hat. Sie verkörpert das aktuelle Tanzmariechen, das sich mit allen Mitteln dagegen wehrt, von seiner Rivalin (Natalia Rudziewicz) verdrängt zu werden.
Die beiden weiteren Schlüsselrollen werden von Männern eingenommen: Tristan Seith spielt Evelyns verbitterten Vater; er ist es auch, der überall den Klüngel am Werk wittert und prompt an eine Verschwörung glaubt, als sein völlig talentfreier Sohn nicht als Büttenredner zugelassen wird. Sein Gegenspieler ist der Präsident der Jecke Aape, und im Gegensatz zum Koblenzer Seith, der seine Dialoge mit authentisch klingenden Dialektanklängen versieht, muss sich der Allgäuer Herbert Knaup zum Glück nicht als Einheimischer ausgeben. Davon abgesehen verkörpert er diesen Mann, für den der Karneval bitterer Ernst ist, unangenehm glaubwürdig.
"Tanzmariechen" ist nicht als Höhepunkt in die "Tatort"-Annalen eingegangen, aber der Film ist unterhaltsam und dank der Blicke hinter die Karnevalskulissen sehr interessant. Und weil die Kölner Krimis gern für einen gewissen gesellschaftlichen Anspruch stehen, gibt es noch eine Nebenebene mit dem Assistenten des Ermittlerduos: Dass Tobias (Patrick Abozen) schwul ist, war in den Filmen zuvor kein großes Thema, aber nun besucht ihn sein Freund am Arbeitsplatz. Schenk beobachtet, wie die beiden sich küssen, und stellt Tobias zur Rede, aber selbstredend nicht, weil er homophob ist, sondern weil er Irritationen unter den Kollegen vermeiden will.
Es gab schon Seitenstränge, die deutlich weniger elegant in die Handlung integriert waren, aber auch diesmal hakt es etwas, selbst wenn der Vorwand für das Auftauchen des Freundes für eine Reihe amüsanter Gags sorgt. Als Plädoyer für Toleranz im Sinn des kölschen Lebensmottos "Jeder Jeck is anders" funktioniert der Einschub jedoch gut, das Duo Behrendt/Schenk ist ohnehin sehenswert wie stets, und zum Finale wird’s hochdramatisch.