Feinsäuberlich aufgereiht stehen sie im grauen Magazinregal: weiße Pappkisten mit zehnstelligen Nummern, etwas kleiner gedruckt der Hinweis "Liebesbriefarchiv". Was in der Koblenzer Bibliothek der Universität Koblenz-Landau so nüchtern unter Neonlicht lagert, sind niedergeschriebene Gefühle von Liebenden - für die Ewigkeit verwahrt. "Oh, mein liebes M.", heißt es etwa in in einem Briefwechsel aus dem Jahr 1949, "es war mir, als wollte das Herzlein zerspringen".
Die Sprachwissenschaftlerin Eva Wyss hat Ende der 1990er Jahre begonnen, Liebesbriefe zu sammeln. "Mir ist damals bewusst geworden, dass es zu Liebesbriefen keine empirische Forschung gibt", sagt die Schweizerin, die an der Universität Koblenz-Landau unterrichtet. Nur ausgewählte Briefe berühmter Persönlichkeiten wie Komponisten oder Dichter seien bekannt, darüber hinaus nichts. In zwei Schweizer Tageszeitungen schaltete sie einen Aufruf - und hatte schnell rund 2.500 Briefe zusammen. Ein Forschungsprojekt über den Liebesbrief im 20. Jahrhundert folgte.
Doch was ein "Liebesbrief" sei, könne gar nicht definiert werden, betont die Professorin. Dieser habe sich im Laufe der Zeit immer wieder geändert. Die ältesten Stücke im Archiv stammen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Handgeschriebenes findet sich ebenso wie auf Schreibmaschine getippte Briefe, säuberliche Handschriften und Gekrakel, Zeichnungen und Verzierungen auf den Seiten. Es gibt Briefe von Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen. Auch E-Mails und Whatsapp-Nachrichtenverläufe werden inzwischen bewahrt.
In etlichen Briefen fänden sich kulturelle Versatzstücke aus christlichen Narrativen wie dem sehr beliebten Kosewort Engel, berichtet Wyss. In einem Briefwechsel zitiere der Mann immer wieder aus dem biblischen Hohelied der Liebe. "Wir haben auch Briefe von gläubigen Menschen, die sich in einem zweiten Erzählstrang darüber austauschen, dass sie demselben Glauben angehören."
Einst "strategische Kommunikation"
Vor allem im 19. Jahrhundert sei der Liebesbrief als das Werben um eine Frau, als "strategische Kommunikation", vor allem eine männliche Praktik gewesen, sagt Wyss. Das drücke sich in einer männlich codierten Liebessprache aus. "Er schreibt dann, dass er die Liebste küssen möchte, umarmen möchte, eine Locke geschenkt bekommen möchte." Frauen seien zurückhaltender gewesen, weil sie "männlich geprägt" gewesen seien - "und zum Teil noch sind", sagt Wyss. Es gebe auch Beispiele, wo mit Frauen geschimpft wurde, weil sie einen Liebesbrief schrieben. "Obwohl der Mann letztendlich froh war, dass die Frau diesen Schritt gemacht hat."
Auffällig sei auch, dass sich offenbar immer mehr jüngere Menschen dazu entschlössen, Briefe zu schreiben. "Wir haben ausführliche Briefe von Jugendlichen, die gerade eben noch zwei Stunden telefoniert haben, aber erklärten, sie wollten das im Brief jetzt ausführlicher besprechen."
Liebesbekundungen Im Emoji-Zeitalter
Dass die Kommunikation per Whatsapp mit Emojis, Symbolen oder Grußformeln unpersönlicher geworden ist, könne sie so nicht bestätigen, erklärt die Sprachwissenschaftlerin Birte Gnau-Franké von der Universität Koblenz-Landau. "Emojis ersetzen ein sprachliches Zeichen, sind in vielen Fällen visuell stärker."
Zur weiteren Erforschung trägt das Verbundprojekt "Gruß und Kuss - Briefe digital" bei. Bei dem Projekt, das das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert, kümmert sich die Technische Universität Darmstadt um eine Digitalisierung der Liebesbriefe, um den Inhalt zu Forschungszwecken zugänglich zu machen.
Zugleich sind Bürger:innen bei einem sogenannten Citizen-Science-Projekt (Bürgerwissenschafts-Projekt) aufgerufen, selbst mitzuforschen: Viele Interessenten transkribierten Texte, weil sie in der Schule noch Kurrent- oder Sütterlinschrift gelernt hätten, erklärt die wissenschaftliche Mitarbeiterin Lena Dunkelmann, die am Campus Koblenz das Projekt betreut. Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sollen aber auch ermuntert werden, Themen wie "Heimliche Liebe" oder "Liebe auf Distanz" als Gegenstände der Forschung zu bearbeiten.
Inzwischen sind sogar schon Liebesbriefe zu hören: Zwei Hörfunkmoderatoren des Berliner Radiosenders rbb 88.8 haben ehrenamtlich Briefe aus dem Archiv vertont.
Und immer wieder erreichen die Archivmitarbeiterinnen neue Liebesbriefe. "Das ist unser Alltagsschatz, den es zu bewahren gilt", diese Reaktion habe sie immer wieder gehört, sagt Sprachwissenschaftlerin Gnau-Franké. Vor der Digitalisierung wird alles geschwärzt, was die Verfasser identifizieren könnte. "Den Persönlichkeits- und Datenschutz nehmen wir sehr ernst", sagt Wyss.
Für die Zukunft hofft Wyss, dass durch das "Gruß-und-Kuss"-Projekt ganze Briefverläufe systematisch untersucht werden können - und dass die Digitalisierung des Materials weitergeht. "Damit auch alle, die nach uns kommen, darauf zugreifen können. Wir sind dann eines der ersten Archive, das Alltagssprachkultur institutionell als Sammlung bewahrt."
Auch der Briefwechsel von 1949 bleibt so bewahrt - und mit ihm die Erinnerungen eines Verliebten an einen glücklichen Sonntagabend: "Du weißt, was ich meine. Ich glaube, wir zwei hatten alles Glück für uns allein reserviert am selben Abend."