Ein Schriftgelehrter war dazugekommen und hatte die Auseinandersetzung mit angehört. Als er merkte, wie treffend Jesus den Sadduzäern geantwortet hatte, fragte er ihn: "Welches Gebot ist das wichtigste von allen?" Jesus antwortete: "Das wichtigste Gebot ist dieses: Höre, Israel: Der Herr ist unser Gott, der Herr allein! Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Und als Zweites kommt dieses dazu: Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist wichtiger als diese beiden." Da antwortete der Schriftgelehrte: "Ja, Lehrer, du sagst die Wahrheit: Einer ist Gott, und es gibt keinen anderen Gott außer ihm. Ihn zu lieben mit ganzem Herzen, mit ganzem Verstand und mit ganzer Kraft – und seinen Mitmenschen zu lieben wie sich selbst, das ist viel wichtiger als alle Brandopfer und anderen Opfer." Als Jesus merkte, mit wie viel Einsicht der Schriftgelehrte geantwortet hatte, sagte er zu ihm: "Du bist nicht weit weg vom Reich Gottes." Von da an wagte es niemand mehr, Jesus etwas zu fragen.
Markus 12,28–34 in der Übersetzung der Basisbibel, hier vorgelesen von Helge Heynold.
Liebe Mitmenschen,
was, meinen Sie, ist bekannter: "All You Need Is Love" oder "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst"? John Lennon behauptete 1966, die Beatles seien mittlerweile "populärer als Jesus Christus". Das führte damals zu großen Protesten in den USA und im Vatikan. Man hielt den Vergleich für unangemessen und in schlimmem Maße gotteslästerlich. Man kann sich allerdings fragen, ob Lennon damals nicht recht hatte. Die Beatles waren extrem bekannt, und das steigerte sich mit den Jahren sogar noch. Lennons Hymne "All You Need Is Love" ist durchaus vergleichbar mit dem Gebot der Nächstenliebe, wie Jesus es im Munde führte. Liebt einander! Mehr braucht es nicht.
Weder John noch Jesus waren die Ersten noch die Einzigen, die auf die Idee kamen, dass in der Liebe zu anderen Menschen alles steckt, was es für ein gelungenes Miteinander braucht. Auch Jesus wird nach einem bereits bestehenden Gebot gefragt, als der Schriftgelehrte ihn anspricht: "Was sagt die Bibel, was sagt die Tora darüber, welches das wichtigste Gebot ist?" Das ist eine ungemein gute und wichtige Frage, denn die Antwort darauf bedeutet, dass sich an diesem Gebot alle anderen Gebote messen lassen müssen. Jesus antwortet zunächst wie erwartet, indem er das jüdische Glaubensbekenntnis zitiert: "Höre, Israel: Der Herr ist unser Gott, der Herr allein! Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft!" So steht es in der Tora, so hat es Mose gelehrt (5. Mose 6,4–5).
Dann setzt Jesus allerdings ein zweites Liebesgebot nach und sagt, es sei im Rang dem ersten gleich. Auch diesmal ist es ein Zitat aus der Tora. Die Basisbibel übersetzt den Satz mit "Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst." Diesmal stammt der Satz aus dem 3. Buch Mose. Dort geht der Satz eher unter in mehreren Anweisungen für einen guten Umgang miteinander innerhalb des Volkes Israel (3. Mose 19,18). Trotzdem ist das Gebot der Nächstenliebe auch in der jüdischen Tradition von herausragender Bedeutung. Man kann lange über die Frage reden, wer hier mit dem "Nächsten" gemeint ist. Die Basisbibel übersetzt "Mitmenschen". Damit ist deutlich, dass nicht Familie, Nachbarn, Stämme oder Völker gemeint sind, sondern alle Menschen. Ihnen soll die Liebe gelten. Das kann durchaus im Sinne Jesu sein, der die Geschichte vom barmherzigen Samariter erzählte, als man ihn fragte, wer denn mit "der Nächste" gemeint ist.
Ich möchte heute aber das Augenmerk auf den zweiten Teil des Gebots richten: "Wie dich selbst". Wenn man sich diesen Satz im Markusevangelium auf Griechisch anschaut, besteht kein Zweifel an der Aussage Jesu: Liebe deinen Nächsten "hos seauton" – "so (in dem Maße) wie dich selbst". Viele, die darüber ins Nachdenken und ins Predigen gekommen sind, haben sich gefreut, dass Jesus hier dazu aufruft, eben nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst zu lieben. Gerade im Protestantismus kam die Selbstliebe häufig zu kurz. Da ist es ein kleiner Schatz, einmal darauf hinzuweisen, dass schon Jesus dazu aufruft, sich selbst im gleichen Maße zu lieben wie die anderen. So schön diese Vorstellung aber auch ist, so brüchig ist sie leider auch. Der Satz von der Nächstenliebe ist, wie erwähnt, ein Zitat aus der Tora. Dort steht in Hebräisch: "weahawta lereacha kamocha". Das übersetzt der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber so: "Halte lieb deinen Genossen, dir gleich!" Aus der Selbstliebe wird dadurch die Erkenntnis: Der andere ist wie du!
Der hebräische Text legt diese Übersetzung durchaus nahe, sie ist sehr eng am ursprünglichen Satzbau. Mir gefällt die deutliche Aussage. Sie drückt eine schlichte Wahrheit aus, die tatsächlich dabei helfen kann, unsere Nächsten zu lieben: Sie sind wie wir. Gerade in dieser Zeit, wo überall von Konflikten, Spaltungen und tiefen Gräben geredet wird, ist es umso wichtiger, sich klarzumachen: Ich habe mit meinem Gegenüber viel mehr Gemeinsamkeiten, als ich Unterschiede zu ihm habe. So unterschiedlich unsere aktuellen Wünsche und Vorhaben auch sind, letztlich haben wir alle dieselben Bedürfnisse. Wir brauchen alle Wärme und Sicherheit, Bindung und Freiheit, Nahrung und Kleidung, frisches Wasser und – nun ja – Liebe.
Nächstenliebe bedeutet nicht, dass ich mein Gegenüber mögen muss. Ich soll aber immer erkennen, dass er oder sie mir gleich ist und ich darum lieben kann. Und das sei auch die Wochenaufgabe für diesmal: In Situationen, die Ihnen gar nicht liebevoll erscheinen, halten Sie inne und machen Sie sich klar: "Letztlich ist mein Gegenüber wie ich." Ich nehme stark an, dass Sie da innere Widerstände spüren werden. Je stärker die Abneigung gerade ist, desto weniger wollen wir Gemeinsamkeiten sehen. Versuchen Sie es trotzdem! Wie immer gilt: Wenn es nicht funktioniert, machen Sie sich keine Vorwürfe! Die Aufgabe soll nur eine Anregung sein. Letztlich gilt trotz allem immer noch, dass Sie sich auch selbst lieben sollen.
In Verbundenheit!
Ihr Frank Muchlinsky