Mann hält sich eine Hand ans Ohr.
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Was hat eine "Kultur des Aufhörens" mit dem "Hören" selbst zu tun? Dieser Frage geht Pfarrer Günter Hänsel in einem Gastbeitrag nach.
Lebenskunst
Das Hören als spirituelle Haltung
Mit dem jüngsten Buch des Soziologen Harald Welzer "Nachruf auf mich selbst. Eine Kultur des Aufhörens" beschäftigt sich unser Gastautor Pfarrer Günter Hänsel. Welzers Gedanken sind "theologisch anschlussfähig", findet er.

Können wir die Schönheit des Hörens heute neu wertschätzen lernen? Flüchtige Kommunikation und Lärm tragen die Gefahr in sich, dass wir das achtsame Hören verlernen. Wir nehmen zwar ständig Geräusche wahr, doch aufmerksames Hören geschieht seltener.

Im aufmerksamen Hören tauchen wir ein in die Stimme, in die Gefühls- und Gedankenwelt des Anderen und der Anderen, nehmen Anteil am Leben und auch die Zwischentöne, das Unausgesprochene wahr. Ein emotionaler und aktiver Hörvorgang, der sich in uns ereignet. Eine Redewendung lautet: "Ganz Ohr sein." Treffend, finde ich. Aufmerksam zu sein, sich ganz dem Gegenüber zuzuwenden. Ganz Ohr werden für die Fragen, für die Sehnsüchte, für die Sicht der Welt.

Der Gründer des Benediktinerordnes, Benedikt von Nursia, schreibt in seiner Mönchsregel: "Höre, mein Sohn, auf die Weisung des Meisters, neige das Ohr deines Herzens, nimm den Zuspruch des gültigen Vaters willig an und erfülle ihn durch die Tat!" (RB Prolog 1). Die Mönche verstehen sich als Hörende, als Gottsuchende, die in der Gegenwart Gottes leben und seine Nähe in Gebet und Arbeit erfahren. Ein bewusstes und achtsames Hören ist der Grundrhythmus des Mönchseins.

Auch für die jüdische Theologie ist das Hören von wichtiger Bedeutung. Gott wendet sich dem Einzelnen und seinem Volk immer wieder zu. Jüdinnen und Juden beginnen deshalb den Tag mit den Worten: "Höre Israel!" (Dtn 6,4). Im Hören öffnet der Gläubige seine ganze Seele und seinen ganzen Leib für Gottes Wort, mit ganzem Herzen und voller Liebe wendet er sich Gott zu.

 

Mit dem Hören ist auch ein Sich-Erinnern verbunden. Im Erinnern entsteht eine tiefe Verbundenheit mit dem, was war, eine tiefe Verbundenheit zu den Müttern und Vätern des Glaubens, die vorangegangen sind. In diesem Verständnis wird das Hören zu einer Begegnung, es schafft Kommunikation, versetzt den Menschen in ein dialogisches Geschehen. "Alles wirkliche Leben ist Begegnung", so hat es der jüdische Philosoph Martin Buber beschrieben.

Wenn Optimierung falsch läuft

Im Hören geschieht die Hinwendung zum Du. Diese Hörbegegnung bedarf der Aufmerksamkeit: Sich ganz auf den anderen einlassen, sich einem Menschen ganz zuwenden, das ist eine Aufgabe. Im Neuen Testament sind die Worte Jesu zu lesen: "Wer Ohren hat, der höre!" (Mt 11, 15). Im Hören der biblischen Worte wird Gemeinschaft gestiftet und Glauben geweckt. Von den Worten der Bibel angerührt und berührt zu werden, weckt Vertrauen und Hoffnung in das Leben, das von Gott geschenkt und gehalten ist.

Dass wir heute eine "Kultur des Aufhörens" lernen müssen, davon schreibt der Soziologe, Direktor von "Futurzwei" sowie Sprecher des Rates für Digitale Ökologie, Harald Welzer, in seinem aktuellen Buch "Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens" (S. Fischer Verlag, 2021). In seinem persönlichen Buch entwirft er eine Sicht auf unsere Gesellschaft, die eine Kultur des Aufhörens braucht: "Wir bräuchten […] ein Kulturmodell, in dem die Schönheit des Aufhörens den Stellenwert bekommt, der für die Fortsetzung des zivilisatorischen Projekts notwendig ist. Noch einmal: Die Verbesserung, gar Optimierung von Prozessen, die in die falsche Richtung laufen, verschlimmert alles. Aufhören tut not, man muss es als menschliche Kulturtechnik wieder lernen. Damit man auch wieder beginnen kann."

Andere Haltung einüben

Welzer kritisiert die permanente Optimierung und den Wahn des Immer-Schneller-Höher-und-Weiter. Das ständige Angetriebensein durch Steigerung und Wachstum erschöpfe den Menschen und führe in Nächte, die kein Ende und keinen Schlaf kennen. Harald Welzer erleidet mit 62 Jahren einen Herzinfarkt, dem Tode nahe. Sein "Nachruf auf mich selbst" ist ein Nachruf im Hier und Jetzt.

Verantwortung und Veränderung geschehen heute. Für Welzer braucht es eine Veränderung der Haltung. Die geschieht nicht von jetzt auf gleich, aber sie kann eingeübt werden. Warum das Aufhören so schwerfällt? Für Welzer ist die Antwort klar: "Wir haben leider keine Methodik des Aufhörens, weil es dem magischen Denken unserer gegenwärtigen Sinnwelt nach ja immer weitergeht und Endlichkeitsprobleme systematisch nicht existieren. Weg-von-hier, das ist das Ziel. Weil wir keine Methodik des Aufhörens haben, hören wir auch nicht auf."

Perspektive der Endlichkeit

Das Leben aus der Perspektive der Endlichkeit zu betrachten, führt zu einer anderen Haltung dem eigenen und dem gesellschaftlichen Leben gegenüber, davon ist Harald Welzer überzeugt. Ressourcen, ob gesellschaftliche oder individuelle, sind begrenzt und nicht unendlich. Die Endlichkeit des Lebens zu sehen bedeutet eben auch, gesellschaftliches und individuelles Leben nicht ins Unendliche steigern und optimieren zu wollen, sondern das Aufhören von Praktiken und Haltungen einzuüben. Die Gedanken Welzers von einer "Kultur des Aufhörens" inspirieren und lassen weiterdenken.

Im Wort "aufhören" steckt die Bedeutung "auf-hören", etwas zu unterbrechen, sich selbst unterbrechen, innezuhalten, um aufmerksam zu hören, was mich als Mensch umgibt, was mich anruft und berührt. Der Soziologie Hartmut Rosa schreibt dazu: "[…] auf-hören nicht nur um Sinne des Anhaltens, sondern des Empfänglichwerdens, des Sich-anrufen-Lassens, und Zuhören als Form des sich wirklich Einlassens auf ein anderes oder einen anderen."  Auf diese Weise in Beziehung zur Welt zu treten, ist eine andere als der ständige Zwang nach Optimierung und Kontrolle.

Ganz in ihm ruhen

Diese Form der Beziehung kann Erfahrungen des Berührt- und Verbundenseins ermöglichen mit dem, was mich als Mensch umgibt. So kann z.B. ein Spaziergang um den See oder im Wald zu einer Hörerfahrung des Eingebundenseins in etwas Größeres empfunden werden.

Das Hören ist auch eine spirituelle Haltung. Gott hört den Menschen. Er ruft den Menschen in eine Ich-Du-Beziehung. Gott zu hören, ganz in ihm zu ruhen, davon sind die Mystikerinnen und Mystiker überzeugt, muss der Mensch auch das Schweigen lernen. Der Philosoph Sören Kierkegaard hebt ebenfalls die Bedeutung des Schweigens hervor. Er schreibt über das Schweigen und Beten: "Beten ist nicht Reden, Beten ist Schweigen. Und Schweigen heißt Hören."

Die Ewigkeit in uns

Im Gebet sich Gott schweigend zuzuwenden, bedeutet keinen Kommunikationsabbruch. Alles, was sich im Inneren regt, wird hörbar, kann Gott ans Herz gelegt werden. Schweigend, ohne große Worte, im Vertrauen darauf, dass es von Gott gehört wird. Das Schweigen ist etwas Aktives und führt in ein aktives Hören: Im Schweigen aufmerksam zu werden für das, was mich als Mensch umgibt. Im Schweigen ganz in der Gegenwart sein, die Gott selbst ist. In solchen Momenten breitet sich Stille aus.

Der katholische Theologe und Religionsphilosoph Romano Guardini schreibt dazu: "Immer sollte in uns Stille sein, die nach der Ewigkeit hin offen steht und horcht." Darin liegt wohl die größte Schönheit im Hören: In der Stille, die Ewigkeit, das Unendliche, das Göttliche zu hören. Die Stille in uns als der Funke der Offenheit für die Ewigkeit in uns. Im Sichzurücknehmen, im "Leer"- werden, ereignet sich Stille. Gottes Dasein spüren, wie es der Mystiker Meister Eckhart in den Worten zum Ausdruck bringt: "Gott ist mir näher, als ich mir selber bin, all mein Wesen hängt daran, dass mir Gott nahe und gegenwärtig ist."

Diese Weise des Sich-Einlassens wird zu einem Ort tiefer Gotteserfahrung. Die Stille in uns ist schon immer da, doch meist verschüttet. So spricht der Mystiker Eckhart davon, dass in jedem Menschen ein "Seelenfünklein" lebt. Dieses Bild beschreibt die Erfahrung, dass Gott im Menschen gegenwärtig ist. Diese Erfahrung lässt sich nicht erzwingen oder einfach herbeiführen, aber das Schweigen macht empfindsam für Gottes Gegenwart, die uns Menschen umgibt.

Die Schönheit des Hörens liegt wohl darin, dass menschliches Leben im Aufhören ins Hören kommt - auf das, was es umgibt. In dieser Schönheit liegt die Kraft verborgen, individuell wie gesellschaftlich, Schritte und Wege zu gehen, einen Blick für das Leben zu empfinden, das Endlichkeit kennt und darin seine Kostbarkeit hat.