An Weihnachten wird die "Heilige Familie" gefeiert. Nicht nur Christen, auch jene, die kaum noch einen Bezug zur Kirche haben, lassen sich von ihr berühren: Josef, Maria und das Jesuskind scheinen im Kerzenlicht die traditionelle Kernfamilie schlechthin zu symbolisieren, Inbegriff von Solidarität, Schutz und Geborgenheit. Dabei ist die Bibel voller gebrochener und vielfältiger Familiengeschichten. Und für die evangelische Kirche heute ist Vater-Mutter-Kind längst nicht mehr das einzige Modell.
Jahrhundertelang galt allen Christen die zweigeschlechtliche Ehe mit Kindern als göttliche Schöpfungsordnung. In der katholischen Kirche ist die Ehe bis heute ein Sakrament. "Sexualität, Erotik und Zusammenleben gehören bei Martin Luther zur Gott gewollten 'conditio humana', zur Natur des Menschen", sagt der evangelische Theologe Wilfried Härle. "Ehe und Familie sind Gottes gute Ordnung und dienen der Erhaltung der Welt." Allerdings seien sie nicht entscheidend für das ewige Heil.
Auch das Leben Jesu scheint die Bedeutung der Familie zu relativieren: Von einer Ehe berichtet die Bibel nichts. Schon die Umstände seiner Geburt durch die "Jungfrau" Maria waren alles andere als wohlgeordnet. Einige Theologen und Gelehrte meinten, Jesus sei unehelich geboren. Und sein Ziehvater Josef habe zunächst nur halbherzig zu seiner Verlobten Maria gehalten, die nicht von ihm schwanger war (Matthäus 1,18).
Härle hält diese Interpretation für falsch. Sie gehe auf den Wortführer der Deutschen Christen, Emanuel Hirsch, und seine faschistoide, antisemitische Theologie zurück. "Josef und Maria sind die leiblichen Eltern Jesu", erklärt Härle. Immer wieder werde Jesus in der Bibel als "Sohn des Zimmermanns", als Josefs Sohn, bezeichnet. Nur so könne auch sein Stammbaum bis zu David zurückverfolgt werden.
Doch auch viele andere Familienkonstellationen des Alten und Neuen Testaments sind brüchig oder gefährdet: Vom Streit ums Erbe bis zur Patchwork-Familie sind zahlreiche Themen aufzufinden, die auch heute in Familienbeziehungen eine Rolle spielen. Schon bei Adam und Eva, dem Ur-Paar, und ihren zwei Söhnen ist die Familie alles andere als heil: Kain erschlägt seinen Bruder Abel, weil er sich von Gott weniger geliebt fühlt.
Verstörend ist auch die Geschichte des alten, lange kinderlosen Paares Abraham und Sarah: Abraham hatte zunächst auf Geheiß seiner Frau ein Kind mit deren Magd Hagar gezeugt, Ismael. Als Sarah dann doch noch einen Sohn gebiert, bittet sie Abraham, Hagar und Ismael in die Wüste zu schicken - was der auch macht.
Öffnung für andere Lebensformen
Moderne Protestanten, denen die Kleinfamilie heute nicht mehr als Leitbild gilt, berufen sich auf diese Breite der biblischen Erzählungen. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) vollzog mit einer Orientierungshilfe 2013 einen Paradigmenwechsel: Als Familie sollte nicht länger nur die traditionelle Lebensform Vater - Mutter - Kind gelten, sondern auch andere Formen familiär gelebten Miteinanders wie Patchworkfamilien, nicht-eheliche oder gleichgeschlechtliche Partnerschaften, alleinerziehende Mütter und Väter.
Angesichts des tiefgreifenden sozialen und kulturellen Wandels sollte die Kirche die vielfältigen privaten Lebensformen unvoreingenommen anerkennen, hieß es. In der Bibel seien Liebe und Treue wichtig. Überall, wo Menschen sich "verlässlich aneinander binden" und "Verantwortung übernehmen", müssten sie auf kirchliche Unterstützung bauen können, unabhängig vom Geschlecht.
Ein schwelender Konflikt
Bei konservativen Christen und vielen Theologen stieß die Abkehr vom traditionellen Familienbegriff auf heftige Kritik - auch wenn sie die Absicht der EKD lobten, Diskriminierung etwa homosexueller Paare mit Kindern entgegenzuwirken. Sie warfen den Verfassern theologische Ungenauigkeit und mangelnden Rückbezug auf die Bibel vor. Die EKD gebe die biblisch begründete Norm von Ehe und Familie als göttliche Stiftung auf.
Wilfried Härle verweist auf die Aussage der Schöpfungsgeschichte "Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen…" (Genesis 2,24). Jesus habe diesen alttestamentarischen Satz so oft zitiert wie keinen anderen. Der nach wie vor schwelende Konflikt in der evangelischen Kirche über Ehe und Familie ist nach Härles Worten eine "offene Wunde".
Allerdings hat auch Jesus selbst Distanz zu seiner eigenen, leiblichen Familie geäußert. "Wer ist meine Mutter und meine Brüder?" fragt er, als diese ihn, den "Spinner", aus seinem Anhängerkreis zum Essen nach Hause holen wollten (Markus 3,35). Er sieht in die Runde und sagt: "Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter."
Härle hält diese "sehr harten" Worte für authentisch. Es gebe sehr familienkritische Äußerungen Jesu - aber nur, "wenn es zum Konflikt kommt mit der Nachfolge zum Reich Gottes". Dann sei der Ungehorsam der Kinder gegenüber den Eltern geboten. Ansonsten sei Jesus dafür eingetreten, dass Ehe und Familie "möglichst nicht geschieden und zerstört werden" (etwa Matthäus 19,6). Er selbst, der keine Familie gründete, habe in dem Bewusstsein gelebt, als Sohn Gottes einen anderen Auftrag zu haben.