Wieder ist der Nürnberger Hauptmarkt im Dezember leer, kein Lebkuchen- und Bratwurst- und Glühweinduftduft. Auch Händler dürfen wieder keinen Weihnachtsschmuck anbieten. "Das war schon einmal so", sagt die Nürnberger Historikerin Susanne Rieger. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges war der traditionsreiche Platz so verwüstet, dass ein bescheidener, erster "Friedens-Christkindlesmarkt" im damaligen Nürnberger Arbeiterstadtteil Gostenhof stattfand. Die Situation der ersten Nachkriegs-Weihnachten hat die Historikerin in einer Führung "Frohes Fest auf Marken: Weihnachten 1945 in Nürnberg" gebündelt.
Von der evangelischen Dreieinigkeitskirche Gostenhof ist nach den Bombardements auf Nürnberg nur noch der Kirchenchor und der Glockenturm übrig geblieben. Gerade mal 13 Buden konnten an ihrer Südseite auf der Veit-Stoß-Anlage aufgebaut werden. Immerhin hatten sich 51 Händler beworben. Sie mussten in Nürnberg ansässig sein, berichtet Rieger, und wurden genau auf mögliche Mitgliedschaften in der Nazi-Partei NSDAP oder eine ihrer Unterorganisationen geprüft.
Die Historikerin hat auch eine alte Zeitungsnotiz ausgegraben. Darin wird unter anderem von dem verführerischen Bratwurstduft berichtet, für den die gesparten Lebensmittelkarten für die Weihnachtsfleischration um 50 Gramm erleichtert wurden. Vieles war ausverkauft, glückliche Kauflustige hätten demnach immerhin eine Schachtel Christbaumschmuck oder einen Kartoffelschäler erstehen können. Das Rote Kreuz lockte an seinem Stand mit Früchtebrot plus Wohlfahrtsaufschlag, um mit dem Zusatzertrag den Kriegsflüchtlingen zu helfen.
Zigaretten gegen Christbaumschmuck getauscht
Geld war praktisch nicht vorhanden, die offizielle Währung waren - neben Zigaretten zum Tausch - die Lebensmittelkarten, mit denen die amerikanische Militärregierung eine notdürftige Versorgung sicherstellte. Gerade mal 1.300 Kalorien waren als tägliche Kartenration pro Kopf vorgesehen. Das entspreche, so erklärt es Rieger, zweieinhalb Tafeln Vollmilchschokolade - wenn es sie denn gegeben hätte.
Für Dezember 1945 ordneten die Amerikaner eine Gewichtsüberprüfung der Nürnberger an. Demnach wogen beispielsweise Männer im Alter von 20 bis 39 Jahren 61,7 Kilo im Durchschnitt, die über 60-Jährigen 58,9 Kilo. Frauen in den entsprechenden Altersgruppen brachten 58,5 Kilo bzw. 52,1 Kilo im Durchschnitt auf die Waage. Außerdem hatte sich die Stadtbevölkerung von 420.000 Einwohnern zu Kriegsbeginn auf 259.000 Menschen zum Kriegsende dezimiert.
Täglich fünf Weihnachtsgottesdienste
An Weihnachtsgottesdienst war in der zerstörten Dreieinigkeitskirche Gostenhof nicht zu denken. Die katholische Kirche St. Anton bekam "auf den letzten Drücker" 1945 noch Bombentreffer ab, wurde aber längst nicht so beschädigt. So konnten dort vom 23. bis zum 25. Dezember täglich fünf Weihnachtsgottesdienste durchgeführt werden. Es ging der Militärregierung "auch um ein Stück Normalität nach dem Krieg" und so wurde auch für die mitternächtliche Christmette die Ausgangssperre auf 3 Uhr nachts verlegt. "Es war das erste Weihnachten ohne Bomben und Angst, das war etwas Ungewohntes."
Rieger berichtet bei ihrer Tour auch vom Nürnberger Max Beißwanger und seinem Rauchwarengeschäft. Er konnte sein Geschäft im Oktober wieder öffnen und bezog seine Zigaretten direkt von einer Fabrik. Dafür musste er der Verwaltung zwar bürokratisch in mehrfachen Ausführungen Rechenschaft über Einkauf und Verkauf ablegen, war aber vergleichsweise gut versorgt. Immerhin teilte die Militärregierung im Dezember 1945 per Marke über die Kartenstellen jedem Nürnberger 40 Zigaretten zu. Die Nichtraucher tauschten ihre Marken ein, Raucher versuchten in Garten oder Balkon Tabakpflanzen selbst zu ziehen.
Schulmöbel als Brennholz
Die Tour führt auch an der großen Preißlerschule vorbei. Dort waren US-Soldaten untergebracht, die - "zur Freude der Anwohner" - die Schulmöbel aus dem Fenster warfen. Weil auch das Brennholz knapp war, holten sich die Nachbarn die Reste der Tische und Stühle. Der Anspruch auf Holz per Marke berechtigte eine Familie zu drei Ster Holz für die ganze Wintersaison.
Einen Steinwurf von der Veit-Stoß-Anlage entfernt hatte die Militärregierung eine Straßensperre mit Kontrollposten ausgebaut. Denn dahinter ging es gleich zum Justizpalast, in dem am 20. November der große Prozess der Alliierten gegen die Nazi-Größen begann. Laut Rieger soll Kriegsverbrecher Hermann Göring, der Oberbefehlshaber der Luftwaffe, bei seinem letzten Weihnachten vor seinem Suizid besonders laut und inbrünstig das Weihnachtslied "Stille Nacht" gesungen haben.