Die Spekulationen währten lange. Nachdem Heinrich Bedford-Strohm im vergangenen Oktober angekündigt hatte, nicht mehr als Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zur Verfügung zu stehen, war bis Dienstag kaum absehbar, wer ihm folgt: Wem würde die EKD-Synode zutrauen, nach sieben Jahren in die Fußstapfen des äußerst präsenten bayerischen Landesbischofs zu treten?
Vor der Wahlentscheidung gab die erste Abstimmungsrunde über den Einzug in den Rat am Dienstag einen Fingerzeig: Die westfälische Präses Annette Kurschus, in den vergangenen sechs Jahren bereits Stellvertreterin des obersten EKD-Repräsentanten, geht als Favoritin in die Wahl am Mittwoch.
108 von 146 Stimmen bekam die 58 Jahre alte Kurschus und erreichte damit als einzige der 22 Bewerberinnen und Bewerber für die 14 zu vergebenen Ratssitze schon im ersten Wahlgang am Dienstagmorgen die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit. Auf dem zweiten Platz folgte die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs mit 93 Stimmen, der ebenso wie Kurschus Chancen auf den Ratsvorsitz eingeräumt worden waren.
Die 60 Jahre alte Fehrs setzte sich im zweiten Wahlgang durch, bekam dort sogar 116 von 148 Stimmen. Folgt man der Logik früherer Ratswahlen, hat sich Fehrs damit als Stellvertreterin qualifiziert, und es würden künftig erstmals in der EKD-Geschichte zwei Frauen an der Spitze des Rates stehen.
„Ja. Ich nehme die Wahl an. Dankeschön“, sprach Kurschus protestantisch nüchtern, aber über das ganze Gesicht strahlend um 10.10 Uhr in das Mikrofon am Rednerpult und die Kameras im Bremer Tagungshotel, in dem seit Sonntag nur ein kleiner Teil der Synodalen sowie Vertreter der 20 Landeskirchen versammelt sind. Die Mehrzahl stimmte aus der Ferne ab, nachdem die Sitzung kurzfristig digital organisiert worden war. Ein Mitglied aus einem vorbereitenden Gremium war zuvor positiv auf das Coronavirus getestet worden.
Kurschus wusste auch auf Distanz zu überzeugen. Klug wie energisch, pointiert und mit leisem Humor hatte sie sich am Sonntag in ihrer fünfminütigen Bewerbungsrede präsentiert. Sie verwies auf ihre bisherige Arbeit im Rat, gab aber auch deutliche Hinweise, dass sie anders als Bedford-Strohm weniger zu allgemeinen gesellschaftlichen Fragen sprechen, sondern als Theologin wirken möchte.
„Ich setze auf die Kraft geistlich-theologischer Akzente“, betonte sie und stellte heraus: „Wo wir uns als Rat öffentlich zu Wort melden, sollte das erkennbar begründet und wohlüberlegt sein.“ Nur selten gehe das so plakativ, wie manche das gern hätten. Kirche solle gelegentlich auch „sperrig“ sein und auf Differenziertheit bestehen.
Wichtige Weichenstellungen stehen an
2011 war Kurschus als erste Frau zur leitenden Geistlichen an die Spitze der Evangelischen Kirche von Westfalen gewählt, 2019 im Amt bestätigt worden. Ihre öffentlich stärksten Auftritte hatte sie in der Vergangenheit als Predigerin, so 2015 im zentralen Trauergottesdienst für die Opfer des Germanwings-Flugzeugabsturzes, als sie im Kölner Dom das Entsetzen über das Unglück mit 150 Toten einfühlsam in Wort fasste. Wenige Tage vor der EKD-Synode war bekanntgeworden, dass die ledige Kurschus, die zunächst Medizin studiert hatte, dann aber bald zur Theologie gewechselt war, in diesem Jahr mit dem Ökumenischen Predigtpreis 2021 in der Kategorie „Lebenswerk“ ausgezeichnet wird.
„In unserer Kirche steht eine Erneuerung an, deren Ausmaß und deren Radikalität wir wohl alle erst zaghaft ahnen.“ Auch das sagte Kurschus bei ihrer Bewerbungsrede und sprach damit an, dass der EKD-Rat in den nächsten sechs Jahren wichtige Weichenstellungen vorzunehmen hat. Nach einer Zeit mit steigenden Kirchensteuereinnahmen wird der anhaltende Mitgliederschwund schon sehr bald auch die finanziellen Möglichkeiten mindern. Von Liebgewonnenem gilt es Abschied zu nehmen, zugleich aber junge Menschen neu für die christliche Botschaft zu begeistern und zugleich in der Gesellschaft relevant und präsent zu sein.
Glaubwürdigkeit zurückgewinnen
Dazu ist Glaubwürdigkeit unbedingte Voraussetzung, die die EKD beim Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt jüngst dramatisch eingebüßt hat. Um dieses zurückzugewinnen, das hatte sich am Montag beim Gespräch mit Missbrauchs-Betroffenen auf der Synode gezeigt, wird eine sechsjährige Amtszeit des Rates nicht ausreichen.