"Was wir scheinen und schaun im Raum, ist nur ein Traum in einem Traum", heißt es in einem Gedicht von Edgar Allan Poe, und darum geht es auch in dem raffinierten Spiel über die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, das sich Moritz Binder und Johanna Thalmann für ihren "Tatort" mit dem unnötig englischen Titel "Dreams" (Träume) ausgedacht haben. Schon der Einstieg verlässt den üblichen Erzählrahmen: Sonntagskrimis beginnen in der Regel mit einem Mord. Manchmal gibt es auch bloß Hinweise auf eine Tat, aber keine Leiche. In beiden Fällen besteht die Herausforderung darin, den Täter oder die Täterin zu suchen. Der Auftakt zu "Dreams" besteht jedoch aus einem Geständnis: Die junge Geigerin Marina (Jara Bihler) ist überzeugt, ihre Freundin und Konkurrentin um den Platz als erste Konzertmeisterin auf der Dachterrasse des Münchener Gasteig ermordet zu haben. An weitere Details kann sie sich allerdings nicht erinnern.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Allein auf der Basis eines Geständnisses lässt sich natürlich keine Anklage aufbauen, zumal ein weiteres Detail ganz erschwerend hinzu kommt: Marina ist eine sogenannte Klarträumerin. Was solche Menschen im Schlaf erleben, ist derart lebhaft, intensiv und realitätsnah, dass sie möglicherweise überzeugt sind, die Ereignisse aus dem Traum hätten sich wirklich zugetragen. Andererseits gibt es untrügliche Indizien für eine Gewalttat: Blut auf dem Dach wie auch in der Tiefgarage deuten darauf hin, dass eine Leiche weggeschafft worden sein könnte, und dieses Blut lässt sich in der Tat Lucy (Dorothee Neff) zuordnen; ansonsten aber fehlt von der jungen Frau jede Spur.
Das Phänomen der luziden Träume – die Träumenden sind sich des Traums bewusst und können Einfluss nehmen – ist keine Erfindung des Drehbuchs. Natürlich bedarf die wissenschaftliche Ebene einiger Erläuterungen, was in Krimis oft zu ungelenk inszenierten Vorlesungen führt. Auch in „Dreams“ lassen sich entsprechende Monologe nicht vermeiden, aber in diesem Fall entpuppen sich Rollenentwurf und Darstellung als Glücksfall, weil Katrin Röver die Ausführungen der Traumforscherin Antonia Deah völlig ungestelzt vorträgt: Die Frau hat eine Methode entwickelt, wie Menschen mit Hilfe der Träume ihr Potenzial optimieren können. Auch das haben sich Binder und Thalmann nicht ausgedacht: Im Leistungssport und in der Musik werden Klarträume genutzt, um Bewegungsabläufe durchzuspielen und die Virtuosität zu steigern. Zur Kundschaft der Forscherin zählen nicht nur die beiden Musikerinnen, sondern auch ein junger Turner, der außerdem Miteigentümer des Instituts ist. Somit haben Leitmayr und Batic (Udo Wachtveitl, Miroslav Nemec) einen weiteren Verdächtigen: Mats Haki (Theo Trebs) war zwar Lucys Freund, hatte aber eine Affäre mit Marina; und Lucy kannte ein Geheimnis, dessen Veröffentlichung vermutlich seine Karriere beendet hätte.
Neben der auch filmisch faszinierenden Vermischung von Traum und Realität, den interessanten Einblicken in das enorm fordernde Leben junger Musikerinnen und Musiker, der ausgezeichneten Kameraarbeit (Volker Tittel) sowie den diversen originellen Ausstattungsdetails macht auch der Handlungsort einen großen Reiz von „Dreams“ aus: Dank der Auswirkungen der Corona-Auflagen auf den Konzertbetrieb konnte sich Regisseur Boris Kunz, der für den Bayerischen Rundfunk auch die bissige Serie „Hindafing“ (2017/19) gedreht hat, quasi nach Belieben in den Räumlichkeiten des Kulturzentrums Gasteig tummeln; alle Szenen sind an den Originalschauplätzen in der Philharmonie, im Carl-Orff-Saal und auf den Probebühnen entstanden.
Ähnlich großen Anteil an der Authentizität des Films hat die Musik von David Reichelt, der für das BR-Rundfunkorchester eine große Partitur geschrieben hat; die Übergänge zwischen Konzert- und Filmmusik sind ähnlich fließend wie die Grenzen zwischen der geträumten und der erlebten Wirklichkeit. Kunz hat sich zwar moderater Horrorfilmeffekte bedient, aber ansonsten ist die Traumwelt bis hin zum raffinierten Finale sehr diesseitig inszeniert. Die letzte Arbeit des Regisseurs war die für den ZDF-Zweitsender Neo entstandene sehenswerte Serie „Breaking Even“ (2020), die als Wirtschafts-Thriller über selbstfahrende Autos begann, sich anschließend zur Familien-Saga wandelte und schließlich zum Krimi wurde. Für Kunz und das Autorenduo war „Dreams“ bestimmt ein besonderes Vergnügen, schließlich sind aus Sicht der Filmschaffenden auch Filme und Serien nichts anderes als luzide Träume. Johanna Thalmann hat zuvor bereits mit einem „Tatort“ aus Frankfurt („Luna frisst oder stirbt“) ein ähnlich originelles Spiel mit verschiedenen Wirklichkeiten getrieben.