Herr Schmidt, haben Sie ein persönliches Lieblingslied aus dem Evangelischen Gesangbuch?
Andreas Schmidt: Ich finde ja "Bis hierher hat mich Gott gebracht" fantastisch. Das ist eines meiner ganz lieben Lieder. Und wenn man von einem lieben Lied spricht oder von einem Lieblingslied, geht das weit über die aktuelle Situation hinaus. Das ist tiefste Emotion. Es ist fast wie eine Persönlichkeit, die einem gegenübersteht, oder wie ein Teil von eigenem Körper.
Das Gesangbuch soll erst in etlichen Jahren erscheinen - das klingt nach einem langwierigen Prozess. Wie läuft so etwas überhaupt ab?
Schmidt: Das in wenigen Worten zu sagen, ist eigentlich unmöglich. Vielleicht ist eine Vergleichszahl ganz hilfreich: Das jetzige Evangelische Gesangbuch ist bereits in den 1980er Jahren vorbereitet worden und dann Mitte der 1990er Jahre erschienen. Das zeigt also ein bisschen, wie komplex ein solches Vorhaben ist. Nehmen Sie jetzt noch die neue, digitale Seite eines solchen Projektes, dann ist klar, dass der Aufwand eher noch größer wird als seinerzeit.
Aber grundsätzlich nimmt man das vorhandene Gesangbuch und sagt sich: Das Lied kann raus, dafür wollen wir lieber ein anderes Lied?
Schmidt: Ja, es gibt Votings, das ist ja heute online ganz gut möglich. Es wird evaluiert, ob sich die Lieder in Gebrauch befinden und danach wird dann entschieden, ob sie weiter drinbleiben oder durch neue ersetzt werden. Sie müssen sich vorstellen, dass es sehr viele Wettbewerbe gibt, die auch die Initiatoren anregen sollen, neues Liedgut zu schaffen. Das findet gezielt zu bestimmten thematischen Ausrichtungen statt, so dass wir damit rechnen, Mitte des Jahrzehnts wirklich etliches Gutes, Neues zu haben, was verspricht, auch längere Zeit lebensfähig zu sein. Das ist das Problem auch vielen neueren Liedguts, dass es oft nur wenig über den Tag hinaus Bestand haben wird. Das Kriterium für ein dauerhaftes Gesangbuch ist, dass die Lieder eine Erlebnisfähigkeit über den Tag hinaus haben.
"Das Psalmensingen ist eine bayerische Tradition"
Das zu beurteilen, das ist doch ziemlich schwer, oder?
Schmidt: Das ist in der Tat schwierig und das ist die Grundaufgabe jedes Gesangbuch-Prozesses. Und natürlich muss man Experimente wagen, auch mal vorsichtig Experimentelles reingeben und schauen, wie es sich bewährt und dann eben beim folgenden Gesangbuch wieder von Neuem evaluieren. Das Ganze ist ein hoch dynamischer Prozess. Wir in Bayern sind ja letztlich nur zuständig für den sogenannten Regionalteil. Der berücksichtigt in unserem Fall die bayerischen Traditionen.
Was ist denn das regional Typische für Bayern?
Schmidt: Wenn sie zwischen den verschiedenen Landeskirchen vergleichen, werden Sie feststellen, dass es tatsächlich so etwas wie einen landeskirchlichen "Stallgeruch" gibt. Also wirklich ein Liedrepertoire, das vor allem in einer Landeskirche gesungen wird, und in einer anderen eben nicht. Das ist ganz erstaunlich. Es zeigt, dass es unterschiedliche Strömungen innerhalb des deutschen Protestantismus gibt, was historisch völlig legitim und auch gewollt ist. Denken Sie zum Beispiel an das Psalmensingen. Das ist eine wirklich bayerische Tradition.
"Die Leute tragen die Lieder auch im Herzen herum"
Bewahren sich diese Traditionen denn auch in der heutigen Zeit, wo so viele Leute mobil sind und nicht da leben, wo sie ursprünglich sozialisiert wurden?
Schmidt: Ja, das ist das Erstaunliche. Natürlich ist die Mobilität ungemein höher als noch vor 50 Jahren. Trotzdem halten sich lokale Traditionen. Ich bin schon relativ lange in dem Beruf und man kommt auch ziemlich viel rum in der Landeskirche. Dabei stellt man fest, dass es unterschiedliche regionale Schwerpunktsetzungen gibt. Es sind viele kirchliche Mitarbeiter, Pfarrerinnen und Pfarrer, Kirchenmusiker aus dem Fränkischen nach Südbayern gegangen und prägen natürlich ein Stück weit auch dann dieses doch eher katholisch geprägte Umfeld mit ursprünglich fränkischen Traditionen.
Und was glauben Sie, wieviel Experimente Sie den Gottesdienstbesucherinnen und -besuchern zumuten können?
Schmidt: Unsere Erfahrung ist tatsächlich, dass der Gemeindealltag doch stark geprägt ist von regelmäßig wiederkehrenden Dingen. Es geht letztlich darum, dass die Leute den Liedbestand nicht nur in gedruckter Form im Gesangbuch vor sich liegen haben, sondern auch, ich sage es mal etwas pathetisch: in ihrem Herzen mit sich herumtragen. Sprich, dass sie ein Lied nicht nur singen, weil es im Gesangbuch steht, sondern weil sie es mögen, weil sie es kennen, weil sie es einfach gerne singen. An diesen Parametern findet die Experimentierlust schnell ihre Grenzen.
"Wo finden wir generationenübergreifendes Singen heute noch?"
Klar, die Lieder, die wir als Kind schon gesungen hat, sind uns einfach sehr vertraut...
Schmidt: Genau. Da sprechen Sie übrigens einen weiteren Punkt an. Der ganze Bereich der Kinder und Jugendlichen, auch das ist ein Aspekt. Wo finden wir das Phänomen des generationenübergreifenden Singens heute noch außer im Fußballstadion? In der Kirche. Und das ist ein ganz hohes Gut, das wir pflegen wollen. Nehmen Sie das Lied "Danke für diesen guten Morgen", das gibt es seit den 1960er Jahren. Damals war es neu und unbekannt, aber es hat seinen Weg in die Kirchengemeinden genommen. Heute ist es nicht mehr wegzudenken, aber es ist ein neues Lied. Sprich, man muss dem Lied Raum geben und einfach schauen, wie es sich ausbreitet. In Bayern haben wir eine schöne Tradition, zum Gesangbuch noch ein ergänzendes Liederheft zu veröffentlichen. Das ist das im Jahr 2011 erschienene Liederheft für die Gemeinde "Kommt, atmet auf".
Ist das als Testlauf gedacht?
Schmidt: Ja. Das Gesangbuch ist in den 1990ern erschienen. Mitte 2011 haben wir dann gesagt, wir evaluieren, was seit den 1990er Jahren entstanden ist, und schauen, was wir davon in Gemeinden zugänglich machen. Und es zeichnet sich jetzt nach elf Jahren ab, welche von diesen damals relativ neuen Unbekannten ihren Weg machen werden in das nächste große Gesangbuch.