Im Wohnzimmer von Rüdiger Standhardt steht auf einem kleinen Wandschrank eine Urne, sandfarben mit Mustern, und wer genau hinguckt, entdeckt ein Herz. Standhardt hat die Urne selbst gestaltet. „Da werde ich mal drin sein“, sagt der 59-Jährige und schmunzelt.
Standhardt ist Achtsamkeits-Coach in Gießen und befasst sich auch in seinen Kursen mit dem Thema Sterben: „Leben, Sterben, Tod“ nennt er eines seiner Trainingskonzepte. Die Idee: Wenn man sich rechtzeitig mit dem eigenen Sterben beschäftigt und Vorbereitungen trifft, dann verliert der Tod seinen Schrecken und wird ein selbstverständlicher Begleiter im Alltag. Das schafft Raum für ein intensives Leben, wie Standhart glaubt: „Ich will ein buntes, erquicktes Leben, um dann sterben zu können.“ Mit Blick auf seine Urne fragt er: „Was bedeutet der Tag angesichts dieser Urne?“
Für das neunmonatige Training zu „Leben, Sterben, Tod“ fanden sich 20 Teilnehmer:innen. Sie trafen sich seit Anfang des Jahres einmal im Monat online, erhielten Studienbriefe mit Texten und Aufgaben wie „Schreibe deinen Verlust-Lebenslauf“ und besprachen sich regelmäßig mit einem „Lernpartner“.
„Viele Menschen vermeiden das Thema, weil sie Angst haben, dass es Schwere in ihr Leben bringt“, sagt Teilnehmerin Carola, die selbst Achtsamkeitslehrerin ist. Sie habe viele Impulse bekommen: „Ich bin dankbar, dass ich mit Menschen über so etwas Essenzielles reden konnte, für das sonst in unserer Gesellschaft kein Raum ist.“
Ein Teilnehmer erzählt, dass er ein Jahr in den USA verbracht habe, und weil die Zeit begrenzt gewesen sei, habe er sie intensiv erleben können. Diese Erfahrung würde er gern auf sein gesamtes Leben übertragen, das ja auch begrenzt sei. Eine Frau berichtet von einem Tag der offenen Tür in einem Bestattungsinstitut in ihrem Heimatort: „Man konnte im Sarg Probe liegen, es wurde viel gelacht und hatte etwas Humorvolles.“
Wenn das Leben nur aus dem Job besteht
Andere Teilnehmer - es sind jüngere und ältere, Frauen und Männer, verstreut über ganz Deutschland, eine wohnt im Ausland - sagen, dass ihr Leben fast nur aus dem Job bestehe. Sie habe den ganzen Tag gearbeitet, erzählt eine Teilnehmerin mittleren Alters beim Onlinetreffen am Abend, „und wenn jetzt nicht das Seminar wäre, würde ich immer noch arbeiten“. Standhardt schickt ein Zitat des amerikanischen Bestseller-Autors Stephen R. Covey in die Runde: „Wer bereut schon auf dem Sterbebett, nicht mehr Zeit im Büro verbracht zu haben?“
Der Trainer will die Teilnehmer:innen anregen, sich „achtsam“ dem Thema Tod zu nähern, wie er sagt. Das heißt für ihn: das Thema in all seinen Facetten betrachten, von Organspende über Sterbefasten, von invasiver Beatmung oder Zwangsernährung am Lebensende bis zur Vorbereitung der eigenen Trauerfeier.
Einer Teilnehmerin, die beklagt, sich in einem „Hamsterrad“ zu befinden, rät er: Sie solle jeden Morgen zehn Minuten lang der Frage nachlauschen: „Was ist heute wesentlich in meinem Leben - angesichts der Tatsache, dass ich in der nächsten Nacht sterben könnte?“ Standhardt verschickt eine Aufgabe: „Tue so, als ob du in genau sechs Monaten sterben würdest. Was sind die fünf Dinge, die du vorher noch tun musst oder willst?“ Solche Übungen sollen helfen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Mit ihrem Buch „5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“, landete die Australierin Bronnie Ware vor einigen Jahren einen Bestseller. Sie hatte lange als Palliativpflegerin gearbeitet und kam in ihren Gesprächen mit Sterbenden zu der Erkenntnis: Vielen fehlt der Mut, sich dem zu widmen, worauf es ihnen wirklich ankommt.
Angst vor qualvollem Sterbeverlauf
Standhart sagt, seine Philosophie sei, dass das Thema Tod ganz normal zum Leben dazu gehöre müsse: „Dann gehe ich anders durch die Welt. Wenn jemand stirbt, kann ich für diesen Menschen da sein. Das können die meisten nicht, weil sie mit ihren Ängsten beschäftigt sind.“
Es gebe eine „weit verbreitete Angst vor einem qualvollen Sterbeverlauf und auch die Angst vor dem Ausgeliefertsein an lebensverlängernde medizintechnische Maßnahmen“, schreibt der Palliativmediziner Gian Domenico Borasio in seinem Buch „Über das Sterben“. Auch er rät, sich rechtzeitig mit Fragen rund um das Lebensende zu befassen. Und er möchte Ängste nehmen: Viele Berufsgruppen, ehrenamtliche und professionelle Helfer unterstützten mittlerweile Sterbende. Die „Hoffnung auf ein menschenwürdiges Lebensende unter guter Betreuung wird für immer mehr Menschen Realität“.
Standhardt selbst hat alle wichtigen Dokumenten sorgfältig in Aktenordner geheftet, nach Farben geordnet und in ein Regal gestellt: Testament, Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht, auch Vorschläge für die Trauerfeier, eigene Texte. „Das schafft Entspannung für mich und für die Menschen, die mit mir sind.“ Wo möchte ich bestattet werden, wer soll zur Beerdigung kommen, was sagt die Pfarrerin? Eine Teilnehmerin berichtet im Seminar, dass sie zur Seebestattung recherchiert habe: „Die Ruhe und die Stille, das wäre das Richtige für mich.“
Und die Angst vor dem Tod verliere auch ihre Dimension, wenn man die Frage nach dem Danach stelle, meint Standhart: „Was habe ich für ein Bild, was nach dem Tod kommt?“ Der studierte evangelische Theologe, der sich als „Freigeist“ bezeichnet, malt es sich so aus: „Das Leben ist das große Vorspeisen-Buffet. Dann öffnet sich eine Tür, und zum Vorschein kommt das köstliche Hauptgericht.“