Günter Hänsel: Menschen fragen danach, wo sie heute daheim sind. Wieso ist das so?
Anselm Grün: In unserer Zeit sind viele Sicherheiten weggebrochen. Da ist es ein Bedürfnis der Menschen, sich über die eigene Identität klar zu werden und einen Ort zu haben, an dem sie daheim sind, an dem sie Wurzel schlagen können mitten in dieser unruhigen Welt.
Der Berliner Philosoph Wilhelm Schmid hat kürzlich das Buch "Heimat finden. Vom Leben in einer ungewissen Welt" veröffentlicht. Er spricht darin von "Heimaten", in denen Mensch sich zugehörig und geborgen erfahren. Wonach sehnen sich Menschen heute, wenn sie nach "Heimaten" suchen?
Grün: Die Menschen sehnen sich nach einem Ort, an dem sie sich geborgen wissen, an dem sie Gemeinschaft erfahren, an dem sie sich angenommen fühlen. Und sie sehnen sich danach, dass ihre Lebensgeschichte trotz aller Brüche eine innere Kontinuität aufweist.
Günter Hänsel (*1993) studierte Religions- und Gemeindepädagogik (M.A.) an der Evangelischen Hochschule Berlin. Von 2018 bis 2020 war er Vikar der Kirchengemeinde Berlin-Frohnau. Seit 2021 ist er Pfarrer der Kirchengemeinde Berlin-Schlachtensee. Er lehrt an der Evangelischen Hochschule Berlin zu Spiritualität.
Heimat ist ein schillernder, ein vielfältiger, ein emotional aufgeladener, aber auch instrumentalisierter Begriff. Wie lässt sich heute Heimat denken, ohne in Heimatromantik und Enge zu fallen?
Grün: Wir dürfen den Begriff der Heimat nicht instrumentalisieren. Wenn wir nüchtern in die Vergangenheit schauen, so war die Heimat nie eine heile Welt. Sie war oft genug von Enge geprägt. Fremde hatten in der Heimat keinen Ort. Mir hilft die Definition von Heimat durch Ernst Bloch in seinem berühmten Werk "Prinzip Hoffnung". Da sagt er: "Heimat ist das, was jedem in die Kindheit scheint, und worin noch niemand war." Wenn wir von Heimat sprechen, so haben wir in der Kindheit etwas von Heimat und Geborgenheit geahnt, auch von dem Geheimnis, das uns umgibt. Aber die Heimat war noch nie das, was uns für immer Geborgenheit geschenkt hat. Es war immer nur eine Ahnung von einem Ort, auf den hin wir unterwegs sind.
Jesus antwortet auf die Frage der Jünger nach seiner Heimat mit den Worten: "Der Menschensohn hat keine Stelle, wo er sein Haupt hinlegen kann." (Matthäus 8,20) Die Erfahrung von Heimatlosigkeit gehört demnach zum Leben. Was verstehen Sie unter Heimatlosigkeit?
Grün: Bei aller Suche nach Heimat sollen wir als Menschen uns bewusst werden, dass diese Welt keine letzte Heimat ist. Wir sind immer unterwegs auf eine ewige Heimat hin. Wir sind, wie der Hebräerbrief sagt, "Fremde und Gäste auf Erden" (Hebr 11,13) Im frühen Mönchtum gab es Mönche, die immer unterwegs waren, weil sie das Wort Jesu ernst genommen haben. Sie wollten immer Pilger sein, ohne festen Wohnsitz, um zu bekennen, dass sie auf die ewige Heimat hin unterwegs sind.
Gerhard Tersteegen schreibt in seinem Abendlied: "O Ewigkeit, so schöne, mein Herz an dich gewöhne, mein Heim ist nicht in dieser Zeit." Welche Lebenskunst geht von dem Gedanken aus, dass der Mensch zwischen Heimat und Heimatlosigkeit angesiedelt ist?
Grün: Wenn der Mensch weiß, dass seine eigentliche Heimat der Himmel ist, wie Paulus sagt (Phil 3,20), dann gehen wir hier mit einer inneren Freiheit unseren Weg. Wir können Ort genießen, an denen wir uns daheim fühlen. Aber wir krallen uns an keinem Ort fest, weil wir unterwegs sind auf Gott hin.
Wenn wir Heimatlosigkeit als eine existenzielle Grunderfahrung verstehen, die jedes Leben kennt, gelangen wir dann zu einer ganzheitlichen Rede über unser Menschsein?
Grün: Zu unserem Menschsein gehört beides: dass wir um unsere Wurzeln wissen, die wir in der Heimat haben, dass wir aber zugleich immer auf dem Weg sind. Unser Weg ist ein Weg permanenter Wandlung. Wer wandert, wandelt sich. Wir wandeln uns bis wir im Tod für immer in das einmalige und unverfälschte Bild Gottes verwandelt werden.
"Unser Weg ist ein Weg permanenter Wandlung. Wer wandert, wandelt sich."
In seiner Heimatlosigkeit ist Jesus innig mit Gott verbunden. Wie können Menschen heute die Erfahrung des Verbundenseins mit Gott spüren?
Grün: Wir können die Verbundenheit mit Gott in der Natur spüren, die von Gottes Gegenwart durchdrungen ist. Wir können uns in der Stille vorstellen, dass Gottes heilende Gegenwart uns einhüllt. Und wir können die Verbundenheit mit Gott erfahren, wenn wir seine Worte in uns eindringen lassen. Manche können Gott nicht spüren. Aber sie spüren ihre Sehnsucht nach Gott. Und in der Sehnsucht nach Gott ist schon Gott. In der Sehnsucht kann ich also die Spur Gottes in meinem Herzen spüren.
In Ihrem Buch "Wo ich zu Hause bin. Von der Sehnsucht nach Heimat" schreiben Sie: "Die Mönche sind auf der einen Seite ausgezogen aus ihrer Heimat. Sie haben bewusst Heimatlosigkeit in Kauf genommen, weil sie eine andere Heimat suchten, die Heimat in Gott." Haben Sie Heimat in Gott gefunden?
Grün: Ich suche meine Heimat in Gott. Und manchmal kann ich in der Meditation diese Heimat in Gott auch erfahren. Aber dann entschwindet diese Heimat in Gott wieder. Glauben heißt für mich, mich immer wieder an diese Erfahrung erinnern und sie von neuem lebendig werden lassen.
Die Novemberzeit ist eine nachdenkliche Zeit. Wir bedenken unsere Endlichkeit und die Hoffnung, dass Gott heute und am Ende des Lebens da sein wird. Welcher Trost liegt in diesen Tagen darin, über Heimat nachzudenken?
Grün: Gerade in der kalten und dunklen Jahreszeit sehnen wir uns nach einem Heim, in dem wir zuhause sind. Heim und Geheimnis gehören zusammen. Daheim sein kann man nur, wo das Geheimnis wohnt. Die Geborgenheit, die wir in unserem warmen Heim erfahren, verweist uns auf die Geborgenheit, die uns in Gott erwartet. So gehen wir getrost durch diese Welt.