Menschen laufen aneinander vorbei
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Überall werden "tiefe Gräben" entdeckt, die sich durch die Gesellschaft ziehen. Wie schauen Sie auf die Leute auf der anderen Seite des Grabens? Frank Muchlinsky sucht in seinem Zuversichtsbrief nach Antworten.
Der Zuversichtsbrief
Auf verschiedenen Seiten
Überall werden "tiefe Gräben" entdeckt, die sich durch die Gesellschaft ziehen. Frank Muchlinsky fragt sich, wie man dann mit denen auf der "falschen Seite" umgehen sollte.

Ihr aber, meine Lieben, erinnert euch daran: Die Apostel unseres Herrn Jesus Christus haben diese Ereignisse vorhergesagt. Sie haben es euch immer wieder angekündigt: „Am Ende der Zeit werden Spötter auftreten, die ihren eigenen gottlosen Begierden folgen.“ Diese Leute sind es, die Spaltungen in der Gemeinde hervorrufen. Ihr Denken ist ganz auf diese Welt ausgerichtet, und sie haben den Geist Gottes nicht.
Dagegen sollt ihr, meine Lieben, euer Leben auf eurem allerheiligsten Glauben aufbauen. Lasst euch im Gebet vom Heiligen Geist leiten. Haltet an der Liebe Gottes fest. Und erwartet so die Barmherzigkeit unseres Herrn Jesus Christus, der euch ewiges Leben schenkt. Habt Erbarmen mit denen, die zweifeln. Rettet andere, indem ihr sie aus dem Feuer reißt. Mit wieder anderen sollt ihr ebenfalls Erbarmen haben, dabei aber vorsichtig sein! Verabscheut sogar ihre Kleidung, weil sie beschmutzt ist durch ihre menschliche Natur.

Judas 1,17?23 in der Übersetzung der Basisbibel, hier vorgelesen von Helge Heynold.

Liebe Ihr auf der richtigen Seite,

sehnen Sie sich in der Pandemie auch nach klaren Regeln, danach, dass Ihnen jemand klar und deutlich sagt, wie Sie sich in der Krise zu verhalten haben? Gehören Sie zu denen, die unter dem „Flickenteppich“ gelitten haben? Oder sind Sie eher „Team Freiheitsrechte“? Fürchten Sie, dass jemand an Ihrer Hintertür darauf wartet, Sie zwangszuimpfen? Ich nehme an, dass Sie – ganz gleich, auf welcher Seite Sie sich verorten – der festen Überzeugung sind, auf der richtigen Seite zu stehen. Wie schauen Sie auf die Leute auf der anderen Seite des Grabens? Mitleidig kopfschüttelnd? Zornig fäusteschüttelnd?

Die Frage, wie mit der Pandemie umzugehen ist, ist nur eine von vielen, zu denen man eine dezidierte Meinung haben kann und über die man sich heftig streiten kann. In den Medien wird dann gern davon geredet, die eine oder andere Frage „spalte die Gesellschaft tief“. Gendersternchen, Homo-Ehe, Impfungen, Veganismus, wenn jede Auseinandersetzung über ein Thema mittlerweile „tiefe Gräben“ durch unsere Gesellschaft reißt, frage ich mich, warum wir nicht längst alle bewaffnet aus dem Haus gehen. Sicherlich gibt es Menschen, die zur Militanz neigen, wenn es um solche Themen geht, aber nur weil sie die Lautstärksten sind, heißt das noch lange nicht, dass unser Land von Rissen zerfurcht ist.

Auch die Annahme, dass wir uns alle nur noch in unseren eigenen „Bubbles“ bewegen würden, in denen alle dieselben Interessen haben, und in „Echokammern“, wo alle derselben Meinung sind, ist meiner Ansicht nach überspitzt. Kaum jemand bricht den Kontakt mit seinen Kindern ab, weil die sich entscheiden, vegan zu leben. Welcher aus Überzeugung Geimpfte kündigt Freundschaften, wenn Freunde dem Impfen kritisch gegenüberstehen? In der Regel vermeidet man heikle Themen in Gesprächen und wendet sich lieber Regionen zu, in denen man gemeinsam unterwegs sein kann.

Der Autor unseres Bibeltextes für diese Woche sieht ebenfalls Spaltung und Entzweiung in der christlichen Gemeinde. Für ihn ist diese Beobachtung ein eindeutiges Zeichen dafür, dass die Welt untergeht. So ist es angekündigt: Am Ende der Tage werden Leute auftauchen, die nur ihren eigenen Begierden folgen. Das führt zu Spaltungen, bei denen man sich unbedingt zur richtigen Seite halten soll. Heiliger Geist statt Zeitgeist! Und wie soll man mit denen auf der falschen Seite umgehen? Man soll sie aus dem Feuer reißen. Aber bloß aufpassen, dass man sich an ihnen nicht die Finger verbrennt! Wer jemals mit christlichen Ultras zu tun hatte, die versucht haben, ihn oder sie aus dem Feuer zu reißen, wird das nicht vergessen.

Judas, der Autor dieses Briefs (nicht zu verwechseln mit dem Jünger, der Jesus verriet), ist eine Art Erzvater derjenigen, die in jedem Streit, jeder Auseinandersetzung eine Katastrophe sehen. Vielleicht tue ich ihm Unrecht, und die Leute, mit denen er sich auseinandersetzen musste, waren wirklich vollkommen triebgesteuert. Vielleicht hatte er Gründe, die mir auch einleuchten würden, um die Gemeinde vor ihnen zu warnen. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass Judas in der Auseinandersetzung mit ihnen nicht weiterkam und nun einen Grund brauchte, warum er ihnen nicht mehr zu nahekommen musste.

Andere Meinungen als die unseren sind kein Zeichen dafür, dass die Welt untergeht. Selbst wenn diese Ansichten von Menschen geäußert werden, die uns nahe sind, sind sie doch vor allem Zeichen dafür, dass wir in Freiheit leben. Wir haben die Freiheit, zu denken und zu sagen, was wir wollen. Wir dürfen uns streiten. Wir dürfen uns auf der richtigen Seite wähnen, weil uns nicht vorgeschrieben ist, auf welche Seite wir zu gehen haben. Darum, „meine Lieben“, lassen Sie uns auch in den schrillen Auseinandersetzungen weder das Ende der Welt noch unüberbrückbare Risse durch unsere Kirche oder unsere Gesellschaft erkennen. Wenn in diesem Jahr wieder über 76 % aller Wahlberechtigten bei der Bundestagswahl ihre Stimme abgeben, lassen Sie uns dankbar sein, dass wir die Wahl haben. Wie schön, dass in unserem Land auch Menschen leben dürfen, deren Haltung nach unserem Dafürhalten direkt in den Abgrund führt!

Wochenaufgabe: Ist Ihnen bei der Lektüre dieses Briefs eine bestimmte Person in den Sinn gekommen, die sie wirklich mögen, die aber nach Ihrer Ansicht in einer bestimmten Hinsicht nicht alle Tassen im Schrank hat? Rufen Sie sie an oder nehmen Sie auf andere Weise Kontakt auf! Verbringen Sie eine schöne Zeit mit dieser Person! Damit reißen Sie sich gemeinsam aus dem Feuer.

Ich wünsche Ihnen eine spannende Woche!

Ihr Frank Muchlinsky