Ich liebe Hochzeiten. Ich liebe sie so sehr, dass ich mich sogar dann von Freunden "einfliegen" lasse, wenn sie sich an entfernten oder ungewöhnlichen Orten von mir trauen lassen möchten. 2016 war es Eisenach, wo wir kirchlich und das Hotel auf der Wartburg wo wir abends rauschend feierten. Da ich nicht grundsätzlich dazu neige, mich auf Partys übermäßig zu betrinken, war ich am nächsten Morgen frisch und vergnügt genug, an einer Führung über die Wartburg teilzunehmen.
Als lutherischer Theologe hat dieser Ort natürlich eine besondere Faszination auf mich, aber meine Begeisterung für die Wartburg wurde bereits während meiner Kindheit geweckt. Das lag an einer Postkarte, die mir meine Großmutter schenkte. Auf ihr war die Schreibstube Luthers abgebildet. Die alte schwarzweiße Fotografie sei, so sagte mir meine Großmutter, etwas sehr Besonderes, weil sie die Stube in einem Zustand zeigte, den sie mittlerweile nicht mehr habe und, auch niemals mehr haben würde. Ich besaß also ein kleines Vermächtnis und war durchaus gewappnet, auf der Führung eine eher unspektakuläre Schreibstube vorzufinden.
Wie wäre es, jemanden in der Stube sitzen zu haben?
Trotzdem war ich enttäuscht, als ich schließlich vor diesem für mich so besonderen Raum stand. Luthers Stube war so leer in vielerlei Hinsicht. Ein Portrait von ihm mit Bart als "Junker Jörg" hängt da vor einem verlassenen Tisch und einem Stuhl, der mir ebenfalls merkwürdig deplatziert erschien. Ich musste an ähnliche Stätten von großer, historischer Bedeutung denken, an denen man versucht, den Ort durch Komparsen zu beleben. Ich fragte mich, wie es wohl wäre, ständig jemanden in der Stube sitzen zu haben, der oder die flüssige Lutherdeutsch sprechen und den Besucher:innen erklären könnte, was für eine enorme Bedeutung die Tatsache hat, dass Luther in diesen Wänden die Bibel ins Deutsche übersetzte. Ich verwarf den Gedanken als "irgendwie zu amerikanisch", aber der Gedanke, dass dort wieder jemand die Bibel übersetzen sollte, ließ mich nicht mehr los.
Ein Jahr später war großes Reformationsjubiläumsjahr. Ein weiteres Jahr später wurde mir deutlich, dass sich 2021/22 ja auch Luthers Aufenthalt auf der Wartburg zum 500. Male jähren würde. Ich nahm meine Idee wieder auf und begann eine Lobbyarbeit im wahrsten Sinne des Wortes. Auf der Synode der EKD stellte ich in der Lobby ein paar Menschen die Idee vor und war erstaunt, wie viele daran Interesse zeigten. Es war aber schließlich Christoph Rösel, der Generalsekretär der Deutschen Bibelgesellschaft, der die Idee tatsächlich mitnahm und in seinem Haus vorstellte. Michael Jahnke, der Leiter für Kommunikation der DBG nahm sich der Sache an. Er nahm Kontakt auf zu Thomas Seidel, dem Vorstandsvorsitzenden der Internationalen Martin Luther Stiftung. Gemeinsam erarbeiteten die beiden ein Konzept, das man auch der Stadt Eisenach, dem Land Thüringen, der Wartburg selbst, der VELKD und der EKD guten Herzens präsentieren konnte.
Aus meiner Idee einer neuen Übersetzung wurde im Laufe des Prozesses eine "Zwiesprache mit der Lutherbibel", aber aus einer Person wurden derer drei, die nacheinander von September bis Ende des Jahres im ehemaligen Luther-Appartement auf der Wartburg schreiben. Es wird keine Bibel entstehen, es ist nicht einmal klar, ob Gedichte oder Essays zu Papier kommen werden. Es wird eben ein Experiment sein, auf das sich alle einlassen.
Bei der Führung anlässlich der Ankunft zweier der Autor:innen schaltete Andreas Volkert, der Leiter der Öffentlichkeitsarbeit auf der Wartburg, die Alarmanlage aus, die die Lutherstube sichert. Iris Wolff und Uwe Kolbe durften hineingehen. Ihre eigentliche Arbeitsstube ist direkt nebenan, aber Volkert sagte lächelnd zu den beiden: "Wenn Sie wollen, können Sie auch hier drin mal schreiben, wenn die Führungen durch sind." Ich kann mein Glück kaum beschreiben. Luthers Stube ist wiederbelebt!