Baum mit vielen Ästen rankt an Mauer hoch
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Zuversichtsbrief - Woche 80
Neue Generationen haben neue Chancen

Kain erwiderte dem Herrn: „Die Strafe ist zu schwer für mich. Du verjagst mich jetzt vom Ackerland und verbannst mich aus deiner Gegenwart. Als heimatloser Flüchtling muss ich von Ort zu Ort ziehen. Jeder, dem ich begegne, kann mich erschlagen.“ Der Herr antwortete: „Das soll nicht geschehen! Wer Kain tötet, an dem soll es siebenfach gerächt werden.“ Der Herr machte ein Zeichen an Kain. Niemand, der ihm begegnete, durfte ihn töten.
Kain zog fort, weg vom Herrn, und ließ sich im Land Nod nieder. Das liegt östlich des Gartens Eden. Kain schlief mit seiner Frau. Sie wurde schwanger und brachte Henoch zur Welt. Danach gründete Kain eine Stadt und nannte sie nach seinem Sohn ebenfalls Henoch. Henoch bekam einen Sohn: Irad. Irad war der Vater von Mehujael. Mehujael war der Vater von Metuschael und Metuschael der Vater von Lamech. Lamech heiratete zwei Frauen. Die eine hieß Ada und die andere Zilla. Ada brachte Jabal zur Welt. Jabal war der Stammvater der Menschen, die in Zelten leben und Vieh züchten. Sein Bruder hieß Jubal. Er war der Stammvater aller Harfen- und Flötenspieler. Zilla brachte Tubal-Kain zur Welt. Tubal-Kain war Schmied. Er stellte alle Arten von Bronze- und Eisengeräten her. Seine Schwester hieß Naama.

(1. Mose 4,13?22 in der Übersetzung der Basisbibel. Hier vorgelesen von Helge Heynold.)

Liebe Kinder Evas,

um es gleich zu sagen, Adam habe ich in meiner Anrede deswegen nicht erwähnt, weil er es ist, der Eva ihren Namen gibt. Eva heißt „Leben“, und sie wurde „die Mutter aller Lebenden“, wie es heißt (1. Mose 3,20). Darum also: Liebe Kinder Evas, lesen Sie ab und an in der Bibel? Ich meine, über die Verse hinaus, die wir gemeinsam hier anschauen, und neben den Stellen, die im Gottesdienst gelesen werden? Wenn Menschen sich vornehmen, die Bibel einmal vollständig zu lesen, erleben sie häufig bald eine gewisse Enttäuschung. Nach dem fulminanten Start mit den beiden Schöpfungsberichten und der Vertreibung aus dem Garten Eden kommt es zu dem Brudermord von Kain an Abel. Bis hierhin liest sich der biblische Text recht flüssig. Man muss sich ein wenig an die Sprache gewöhnen, die selbst in neuen Übersetzungen altertümlich klingt. Und dann beginnen die ersten Stammbäume, und es fühlt sich wie eine Vollbremsung des Handlungsverlaufes an.

Name reiht sich an Name, wer heiratete wen, wer bekam welche Kinder? Solche Listen unterbrechen das Geschehen immer wieder. Darum ist es kein Wunder, wenn die meisten Menschen bei der Bibellektüre über die Geschlechterlisten hinweglesen. Wenn Sie meine Briefe schon etwas länger verfolgen, werden Sie wissen, dass ich dem Grundsatz folge: Genaues Hinsehen lohnt sich. Die Geschichte von Abel, der von seinem Bruder erschlagen wird, weil Gott sein Opfer freundlich ansah und das von Kain nicht, ist sehr bekannt. Auch dass Gott Kain anschließend verbannte und ihn mit einem Zeichen versah, damit niemand ihn tötet, wissen noch viele. Doch wie es dann mit Kain weitergeht, ist eher unbekannt.

Kains Karriere als Bauer ist jedenfalls beendet. Der Boden, der das Blut seines Bruders aufgesogen hat, ist deswegen verflucht. Kain zieht darum fort. Wir lesen, dass er sich nach Osten wendet. Da schon der Garten Eden, in dem einst Kains Eltern lebten, weit im Osten liegt, können wir uns denken, dass er nun geradezu an die Grenzen der bekannten Welt gelangt. Aufmerksamen Lesenden fällt nun auf, dass Kain eine Frau hat, von der vorher nicht die Rede war. Mehr noch: Waren Kain und Abel nicht die einzigen Kinder Evas zu der Zeit? Woher stammt auf einmal die Frau? Die Bibel erzählt es nicht. Sie braucht es nicht zu erzählen, weil hier eine neue Geschichte beginnt. Die Garten-Geschichte ist vorbei. Wir wissen, warum der Mensch nicht in paradiesischen Zuständen lebt. Die Kain-und-Abel-Geschichte ist ebenfalls vorbei. Wir haben erfahren, warum Menschen einander töten. Nun sollen wir erfahren, wo einige Künste ihren Ursprung haben. Und dafür braucht es weitere Protagonistinnen und Protagonisten.

Schauen wir also genau hin! Kain, der Mörder, hat eine Frau. Mit ihr bekommt er einen Sohn. Man kann sich anhand dieser kargen Notizen fragen, wie das Familienleben der Drei wohl aussah. Gab es wohl etwas, das Kains Frau an ihm besonders schätzte? Was mag das gewesen sein? Hat Henoch, der Sohn der beiden, seinen Vater jemals gefragt, was das merkwürdige Zeichen zu bedeuten hat, das sein Vater trägt? Weil ihn der Boden nicht mehr ernährt, gründet Kain eine Stadt. Auf diese Weise kann er vom Handel leben, von Zolleinnahmen oder von Veredelungen von Gütern.

Jedenfalls lebt Kain fortan nicht von weiteren Verbrechen, und fünf Generationen später werden aus den Nachkommen des ersten Mörders die Ahnen von Menschen, die Wunderschönes tun und schaffen. Harfen- und Flötenspiel und Schmiedekunst entstehen, weil Gott Kain nach dessen schrecklicher Tat am Leben ließ. Nun sind fünf Generationen eine lange Zeit. Aber gerade diese Tatsache gefällt mir an dieser Auflistung. Auch wenn aus Kains Erdboden nichts mehr sprießen konnte, so schafften es doch die Zeit und das Leben, dass aus seinem Stamm Zärtliches und Kunstvolles werden konnte.

Viele Veränderungen zum Guten können wir nicht erkennen, weil wir in zu kurzen Zeitabständen denken. Zwanzig Jahre ausländische Truppen in Afghanistan kommen uns extrem lang vor, doch es ist gerade einmal eine Generation. Zwei Generationen nach der Ermordung Martin Luther Kings wurde Barack Obama zum Präsidenten der USA gewählt. Vier Generationen nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Frauen in Deutschland wurde die erste Frau Bundeskanzlerin. Unrecht muss sich nicht fortpflanzen, sagt der Bibeltext für diese Woche, und das stimmt mich wirklich zuversichtlich.

Die Wochenaufgabe? Keine, es sei denn, Sie haben Lust (mal wieder) die Bibel zu lesen. Dann schauen Sie sich dabei auch die Stammbäume an. Vielleicht entdecken Sie ja Spannendes.

Ich wünsche allen eine gesegnete Woche!

Ihr Frank Muchlinsky