Der Auftakt ist von poetischer Schönheit. Zärtliche Klavierklänge untermalen die Aufnahmen von Spiegeln, die in einem Baum hängen. Doch dann zerreißen Schüsse die Idylle, die Spiegel zerspringen; und im Grunde sind diese Bilder bereits der Beginn des Finales.
Ein vermummter Mann führt offenkundig Böses im Schilde, und tatsächlich fallen weitere Schüsse, als er sich mit seinem Präzisionsgewehr auf einem Hügel über einem Autohof vor den Toren Hamburgs postiert und einen Lkw ins Visier nimmt. Eine der Kugeln prallt unglücklich ab und verletzt einen in der Nähe stehenden Fernfahrer tödlich. "Kollateralschaden" lautete der treffende Arbeitstitel dieses Krimis, aber "Querschläger" passt genau so gut, wie sich zeigen wird, denn der Trucker ist nicht das einzige Zufallsopfer in dieser Geschichte.
Der gelungene Einstieg in den "Tatort" mit Wotan Wilke Möhring und Franziska Weisz (eine Wiederholung aus dem Jahr 2019) wirft umgehend viele Fragen auf, aber eine beantwortet das Drehbuch umgehend: Der Film gibt die Identität des Schützen sehr früh preis und sorgt damit für die erste Überraschung, denn Milan Peschel hat seinen Ruhm vor allem komödiantischen Rollen zu verdanken; ihn als eiskalten Killer zu besetzen, wäre eine höchst ungewöhnliche Idee. Tatsächlich weckt der Mann fortan eher Mitgefühl als Abscheu: Steffen Thewes’ 14jährige Tochter Sara leidet an einer seltenen tödlichen Krankheit. Ihre letzte Chance ist ein Spezialist in den USA, andernfalls wird sie in einigen Monaten sterben. Weil die Krankenkasse die Kosten für die 300.000 Euro teure Operation nicht übernimmt, ist der unbescholtene Familienvater in seiner Verzweiflung zum Verbrecher geworden: Er weiß, dass Spediteur Cem "Jimmy" Aksoy (Eray Egilmez) eine große Summe Schwarzgeld gebunkert hat. Die Schüsse auf dem Autohof galten einem Lkw des Unternehmers. Beim nächsten Mal, droht Thewes, werde er den Fahrer erschießen, Aksoys Bruder Efe (Deniz Arora).
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Geschickt sorgen Serienautor Stielow ("Rosenheim-Cops", "Soko Wismar") und Regisseur Rick für eine clevere Mischung aus kriminalistischer und emotionaler Spannung. Natürlich darf sich Verbrechen im Sonntagskrimi nicht auszahlen, aber ebenso selbstredend soll das Mädchen nicht sterben; und schon steckt man als Zuschauer im Dilemma. Bundespolizist Falke (Möhring) geht es im Grunde nicht anders, schließlich hat er einen Sohn und kann Thewes’ Motive gut nachvollziehen.
Schlüsselszene in dieser Hinsicht ist eine sparsam gespielte, aber gerade deshalb enorm wirkungsvolle Szene, als Falke Sara besucht. Die typische Teenager-Ausstattung des Zimmers sorgt für eine ganz spezielle Atmosphäre, der sich der Instinkt-Polizist nicht entziehen kann. Als Sara ihm erzählt, dass sie das nächste Weihnachtsfest nicht mehr erleben wird, erwidert Falke trocken "Weihnachten ist eh Mist". Die junge Charlotte Lorenzen ist dem alten Hasen Möhring in dieser Szene eine ebenbürtige Spielpartnerin.
Einmal in Fahrt, konfrontiert Stielow den Kommissar mit einer weiteren Herausforderung: Das Duo wird bei seinen Ermittlungen durch eine junge Kollegin (Marie Rosa Tietjen) unterstützt, deren Schwärmerei für Julia Grosz nicht zu übersehen ist; auch das ist eine Situation, mit der Falke erst mal umgehen muss. Das entsprechende Geplänkel bereichert den Krimi um eine sympathische amüsante Note, die außerdem einen reizvollen Kontrapunkt setzt.
Der Film sorgt ohnehin immer wieder für verblüffende Momente, die der Regisseur zum Teil geradezu genüsslich zelebriert; allen voran die Szene, in der sich rausstellt, dass Thewes keineswegs nur als Erpresser in den Fall verstrickt ist. Den Hinterhalt zu Beginn hat Rick dafür ziemlich packend inszeniert. Das tatsächliche Finale, als Thewes längst eine rote Linie überschritten und mittlerweile auch einen kaltblütigen Mord auf dem Konto hat, steigert diese Spannung allerdings noch.
Rick hat sein Talent bereits mit seinem Regiedebüt "Unter Nachbarn" (2012) angedeutet; das subtile Psychodrama mit Charly Hübner und Maxim Mehmet bezog seinen Reiz ebenfalls nicht zuletzt aus einem Wissensvorsprung des Zuschauers. Seine "Polizeiruf"-Beiträge "Eine mörderische Idee" (MDR, 2014) und "Der Preis der Freiheit" (RBB, 2016) entsprachen zwar nur dem guten Krimi-Durchschnitt, aber seine Kinoverfilmung des Martin-Suter-Romans "Die Dunkle Seite des Mondes" (2016, mit Moritz Bleibtreu) war wieder eine faszinierende Reise in seelische Abgründe.
"Querschläger" zeichnet sich neben der guten Besetzung und der Arbeit mit den Schauspielern auch durch eine interessante elektronische Musik (Stefan Schulzki) aus. Die Qualität von Felix Cramers Bildgestaltung schließlich zeigt sich neben einem interessanten Licht und sorgfältig arrangierten Einstellungen nicht zuletzt im Detail, wenn er zum Beispiel in einer fesselnden Kellerszene mit einer kaum merklichen Bewegung seines Arbeitsgeräts für einen verblüffenden Effekt sorgt.