Der evangelische Pfarrer Wolfgang Schinkel (71) lebt seit fast sechs Jahrzehnten im Raum Gießen. Richtig zu Hause fühlt sich der ehemalige Flüchtling aus der DDR aber dort nicht, wie er betont. "Meine Heimat ist Eisleben und das Mansfelder Land, die Toskana des Nordens", schwärmt er. "Im Westen bin ich heimatlos geblieben." Dem 60. Jahrestag des Mauerbaus schaut er mit einem flauen Gefühl entgegen: "Das erinnert mich an das Trauma meiner Flucht im Herbst 1963 und reißt alte Wunden auf."
Wolfgang Schinkel ist elf Jahre alt, als in der Nacht vom 12. auf 13. August 1961 U- und S-Bahn-Verbindungen zwischen Ost- und West-Berlin gekappt und Fenster in Gebäuden zugemauert werden. Er lebt im Haus seiner beiden Tanten in der Lutherstadt Eisleben. Ohne Eltern. Sein Vater, ein Nationalökonom, musste bereits 1959 wegen einer regimekritischen Äußerung Hals über Kopf die DDR in Richtung Westen verlassen, Mutter und Schwester folgten ihm wenige Wochen vor dem Mauerbau nach.
Stundenlange Verhöre zu Angehörigen
Überrascht über die Errichtung des "Antifaschistischen Schutzwalls", wie ihn die SED-Führung um Walter Ulbricht nennt, ist der begeisterte Pionier Wolfgang Schinkel nicht. "Wir waren eine politisierte Jugend", erinnert er sich. "Uns wurde gesagt, dass die Mauer gewaltsame Kräfte aus dem Westen fernhält. Und wir waren zufrieden mit dieser Erklärung."
Erste Zweifel am System kommen dem Jungen, als er mehrfach aus dem Schulunterricht zu stundenlangen Verhören geholt wird. Immer sei es dort um die Flucht der Familienangehörigen gegangen, erzählt Schinkel. Endgültig bricht er mit dem Regime aber erst nach den Suiziden seines Cousins und eines Mitschülers, denen republikfeindliche Agitation vorgeworfen worden war. Gleichzeitig wird der Gedanke an Flucht immer stärker.
Sollte weißem Pfeil folgen
Aber wie kann dies einem Kind gelingen? Wolfgang weiß, dass man D-Mark braucht, um in die Bundesrepublik zu gelangen. Die schickt ihm sein Onkel aus dem Westen, fein gebündelt in Fünf-Mark-Scheinen. "Die Angst vor Entdeckung war groß", erinnert sich Schinkel. "Überall gab es Denunzianten, man konnte niemandem trauen." Es dauert viele Monate, bis er Kontakt zu einem Fluchthelfer bekommt. Und der schickt ihn im November 1963 in eine Ostberliner Kneipe.
"In der völlig verräucherten Spelunke musste ich stundenlang warten", erzählt Schinkel, "und die Angst wuchs, dass ich einen falschen Tipp bekommen hatte." Nach einer "gefühlten Unendlichkeit" kontaktiert ihn ein etwa 45 Jahre alter Mann und bringt ihm zu einem Kanaleinstieg in einem Waldstück. In der dunklen Röhre soll er einem weißen Pfeil folgen. "Ich lief und lief. Unbegreifliche Wellen von Angst überfielen mich und ich verlor komplett das Zeitgefühl. Die Erlebnisse im Kanal waren ein Trauma für mich."
Schinkel, ein Spion?
Als Wolfgang schließlich den von dem Fluchthelfer versprochenen Pfeil nach oben entdeckt, ist er erleichtert. Er schafft es aber erst nach quälend langer Zeit, den Gullydeckel mit Schultern und Kopf aufzudrücken. "Ich wusste nicht, wo ich war." Als er eine Straße erreicht, kommen ihm zwei Männer entgegen, die mit ihren Mützen wie Volkspolizisten aussehen. Mit schlotternden Knien geht Wolfgang in die entgegengesetzte Richtung, bis er vor einer großen Werbetafel steht. Westberlin! Er hatte es geschafft.
Aber nicht ganz. Zwei Tage lang wird er in einer Polizeistation vernommen. Die Beamten wollen herausfinden, ob die DDR mit dem knapp 14-Jährigen einen künftigen Spion eingeschleust haben könnte. Nachdem die Adressen von Eltern und Verwandten im Westen überprüft sind, wird er ins Übergangslager Marienfelde gebracht. Einen Tag vor Heiligabend 1963 steht er erschöpft aber glücklich vor der Tür seiner Eltern in Gießen.
"Soziale Basis" durch Flucht verloren
Im Rückblick prangert der Ur-Ur-Enkel des berühmten Baumeisters Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) die Grausamkeit des Mauerbaus an, kritisiert aber auch, "dass die Westalliierten deren Errichtung tatenlos zugeschaut haben". Mitunter habe er seine Flucht bereut, "hauptsächlich, weil ich dadurch meine soziale Basis verloren hatte." Im Westen sei er in der Schule wegen seiner Herkunft und seines Dialekts gemobbt worden.
Nicht zuletzt deswegen sei er bereits 1972 nach dem Grundlagenvertrag mit der DDR erstmals wieder in seine Heimat zurückgekehrt, sagt Schinkel, der viele Jahre die Telefonseelsorge Gießen-Wetzlar leitete. Seitdem besucht er mehrmals im Jahr das Mansfelder Land. "Wenn ich die Landesgrenze zwischen Hessen und Thüringen überquere, geht mir das Herz auf!"