Rollstuhlfahrerin Ruth Sartor aus Mainz hat bei Gottesdienstbesuchen nicht immer nur gute Erfahrungen gemacht. "Einmal hat ein Orchester gespielt. Ich saß auf der rechten Seite, eine Person kam zu mir und sagte, ich solle mich auf die linke Seite setzen." Der Grund: Das Orchester könne sonst nicht spielen, weil sie im Blickfeld der Musiker störe. "Ich habe mich als Außenseiterin gefühlt, als ob ich nicht dazugehöre", sagt sie. "Ein anderes Mal bin ich gefragt worden, ob ich sicher sei, dass ich hier richtig bin. Ich habe geantwortet: Natürlich bin ich hier richtig - der Herrgott macht keinen Unterschied, ob ich im Rollstuhl sitze oder nicht."
Knapp acht Millionen Menschen mit Behinderung leben in Deutschland, viele von ihnen sind Mitglied einer Kirche. Doch in den Gemeinden vor Ort stoßen sie häufig noch auf Hürden. Mal gibt es nicht ausreichend Platz für Rollstuhlfahrer, mal keine Gesangbücher in Großdruck. "Die Menschen in den Kirchengemeinden wissen oft nicht genau, wie sie mit dem Thema Behinderung umgehen sollen", sagt Sartor.
Barrierefreiheit beginnt beim Gebäude
Hürden vor Ort abzubauen, damit befasst sich Pfarrer Karl Endemann. Er ist Behindertenseelsorger und Fachberater für Inklusion in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN). Alle zwei Monate gestaltet Endemann einen inklusiven Gottesdienst in der Mainzer Emmausgemeinde, den auch Ruth Sartor besucht. Neben ihr nehmen vor allem Menschen aus einer nahe gelegenen Behindertenwohnstätte daran teil. "Mit diesen Gottesdiensten öffnen wir uns für Menschen, die einen besonderen Bedarf haben", sagt Endemann.
Das beginne schon ganz praktisch mit baulicher Barrierefreiheit. "In der Emmausgemeinde ist es zum Beispiel möglich, dass drei Rollstühle nebeneinanderstehen können. Anderswo geht das häufig nicht." Doch auch in der inhaltlichen Gestaltung gebe es Unterschiede, etwa die Sprache betreffend. "Ein typischer evangelischer Gottesdienst ist häufig sehr intellektuell gestaltet." Für Menschen mit einer geistigen Behinderung funktioniere das nicht gut.
Endemann schildert, wie es anders geht. "Beim Thema Trinität zum Beispiel wird in der Predigt oft etwas über ihre Geschichte und den Filioque-Streit erzählt, also über die Frage, von wem der Heilige Geist kommt. Ich kann aber Trinität auch am Beispiel des Wassers erklären: Wir kennen es in flüssiger Form, als Dampf und als Eis. Aber es ist immer Wasser."
Auf Bedürfnisse Blinder eingehen
Heike Kühner ist Blinden- und Sehbehindertenseelsorgerin in der Evangelischen Kirche der Pfalz und selbst blind. Als Gemeindediakonin hält sie auch Gottesdienste in der Elisabeth-Kirchengemeinde in Ludwigshafen-Gartenstadt. "Für die Gemeinde ist meine Blindheit kein Problem. Nur wenn Leute von außerhalb kommen, wundern sich manche, dass ich es eigenständig schaffe, von meinem Platz zum Altar und zur Kanzel zu gehen", erzählt sie.
Ein "Problem" bestehe für die Gemeinde höchstens darin, dass sie viele Dinge ganz selbstständig mache, etwa schwere Kisten die Treppe rauf- oder runtertragen. "Wenn mir jemand sagt: Du kannst das ja nicht, weil du blind bist, da reagiere ich schon ein wenig gereizt", sagt sie.
In Bezug auf ihre Blindheit hat Kühner mit der Kirche gute Erfahrungen gemacht. Dennoch weiß sie, dass das nicht überall der Fall ist. Gottesdienste müssten barrierefrei gestaltet werden, fordert sie. "Das Ziel von Inklusion muss sein, dass zum Beispiel auch blinde oder sehbehinderte Menschen Gottesdienste in einer fremden Gemeinde besuchen, ohne sich dort blöd vorzukommen." So würden blinde Menschen zwar zu einem Platz geleitet, dort dann aber häufig alleine sitzen gelassen.
"Nett wäre es, wenn sich jemand dazu setzt und einen auch nach vorne zum Abendmahl begleitet", erklärt sie. Auch die Liturgie müsse angepasst werden. "Anstatt mit einem Handzeichen kann die Pfarrperson zusätzlich mit Worten darauf hinweisen, sich zum Gebet zu erheben." Doch allein bei solchen Kleinigkeiten habe sie schon erlebt, wie Gemeinden sich sträubten. "Ich bekomme dann zu hören: Ja, aber du kennst die Liturgie doch. Dann sage ich: Ja, aber die anderen nicht!‘"
Auch Ruth Sartor wünscht sich, dass das Thema Inklusion in Kirchengemeinden stärker zur Sprache kommt - gerade auch, um Vorbehalte und Ängste abzubauen. "Wichtig finde ich es, einfach aufeinander zuzugehen. Und dann stellt man häufig schnell fest: Das sind Menschen wie du und ich."