Berlin, Genf (epd). Die teilweise großen Zuschauermengen bei Spielen der Fußball-Europameisterschaft sorgen angesichts der Verbreitung der neuen Corona-Variante für immer lautere Kritik. Nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) tragen sie zu einer schnelleren Verbreitung der Delta-Variante des Corona-Erregers bei. „Ja natürlich, wir sind eindeutig besorgt“, sagte der WHO-Regionaldirektor für Europa, Hans Kluge, am Donnerstag in Kopenhagen mit Blick auf das Turnier. Mit deutlichen Worten wandte sich in Berlin Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) gegen die Uefa. Kommerz dürfe den Gesundheitsschutz für die Bevölkerung nicht überstrahlen, sagte er. Er halte die Position der Uefa für „absolut verantwortungslos“.
Laut WHO-Regionaldirektor Kluge ist die Delta-Variante in den Ländern, in denen die übrigen Spiele der Europameisterschaft ausgetragen werden, auf dem Vormarsch. Der britische Regierung will bei den Halbfinalspielen am 6. und 7. Juli sowie beim Finale am 11. Juli, die alle im Londoner Wembley-Stadion stattfinden, jeweils mehr als 60.000 Zuschauer zulassen. Bei finnischen Fußballfans wurde nach dem Besuch der Europameisterschaft in Russland eine Covid-19-Infektion diagnostiziert. Auch schottische Fans, die sich in London aufhielten, steckten sich mit dem Erreger an.
Er könne sich nicht erklären, „warum die Uefa hier nicht einer Linie der Vernunft folgt“, sagte Seehofer. „Ein Sportverband sollte schon klar erklären: Wir wollen das nicht so, wir reduzieren die Zuschauerzahlen“, appellierte er an den europäischen Fußballverband. Er verwies auf ein EM-Spiel in München, bei dem er selbst vor Ort war. Dort seien 14.000 Zuschauer gewesen. Im Wembley-Stadion waren es am Dienstag 45.000. Wenn Menschen sehr dicht beieinander seien und Erfolge feierten mit Umarmungen, „ist vorgezeichnet, dass dies auch das Infektionsgeschehen befördert“, sagte er.
Auch in Deutschland breitet sich die Delta-Variante weiter aus. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte am Donnerstag in Berlin, er rechne damit, dass der Anteil dieser Mutation bei Corona-Neuinfektionen noch im Juli auf mehr als 70 oder 80 Prozent steige.
Der Soziologe Michael Corsten beklagte ein Missverhältnis zwischen den Möglichkeiten bei Fußballspielen auf der einen und den teilweise noch restriktiven Regeln für Partys von Jugendlichen auf der anderen Seite. „Auf der einen Seite schauen Millionen Menschen am Fernsehschirm einem unter Pandemie-Gesichtspunkten hochriskanten Event in Wembley zu, auf der anderen Seite regen sich womöglich dieselben Menschen über ein paar feiernde Jugendliche im Stadtpark auf: Das erlebe ich schon als Widerspruch“, sagte der Hildesheimer Professor dem epd. Er plädierte generell für einen gelasseneren Umgang mit Treffen von jungen Menschen: „In einer derzeit relativ entspannten Corona-Lage sollten wir gerade jungen Menschen ein wenig Freude und und ein gesundes Maß an Selbstvergessenheit gönnen.“