Der Chef steckt seiner Praktikantin im Büro einen Umschlag zu. Darin befinden sich ein sexy Slip und ein Zettel mit der unverblümten Aufforderung "Zieh das an". Die junge Frau tut, wie ihr befohlen; kurz drauf kommt es im Kopierraum zur "Dessouskontrolle". In beinahe jedem anderen Zusammenhang hätte diese Szene vermutlich für einen MeToo-Aufschrei gesorgt: sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz in Reinkultur. In diesem Fall jedoch nicht, und das liegt nicht in erster Linie daran, dass der Chef eine Chefin ist, schließlich können auch Frauen sexuell belästigen. Leonie Krippendorffs Inszenierung lässt keinen Zweifel daran, dass die "Belästigung" durchaus erwünscht ist, denn Hanna (Banafshe Hourmazdi), Mitte zwanzig, bewundert die deutlich ältere Josephine (Karin Hanczewski): als Mensch, als Frau, als Verlagslektorin. Später zeigt sich zwar, dass Josephine auch ihre Schattenseiten hat, aber diese Erfahrung ist nichts Neues für Hanna; und davon handelt die Neo-Serie "Loving Her".
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die sechs Folgen sind ausgesprochen kurzweilig, was auch mit ihrer Länge zu tun hat: Sie dauern jeweils bloß zehn bis zwölf Minuten. Ähnlich übersichtlich ist das Konzept: Jede Episode dreht sich um eine der Frauen, die in Hannas Leben markante Spuren hinterlassen haben. Den Auftakt macht Franzi (Lena Klenke). Die beiden treffen sich zufällig auf der Straße; die Begegnung löst in Hanna die Erinnerung an ihre Beziehung aus. Franzi war ihr ein und alles: Freundin, Mitbewohnerin, große Liebe; bis die ersten Spannungen auftraten, weil sie doch zu unterschiedlich waren. Frau Nummer zwei ist Lara (Emma Drogunova), ein Partygirl, das Hannas Leben auf den Kopf stellt: Die Nacht wird zum Tag, der Morgen zum Abend; aber Sex, Drogen und Alkohol sind auf Dauer nicht genug, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen.
Krippendorff, die die Drehbücher gemeinsam mit Marlene Melchior geschrieben hat, hält sich nicht mit Profildaten auf. Dass Hanna ins Verlagsgeschäft will, wird beiläufig eingestreut, ist aber im Grunde nur wichtig, weil auf diese Weise die Beziehung zu Josephine entstanden ist. Ansonsten konzentrieren sich die Geschichten weitgehend auf die Beziehungen. Zwischendurch gibt es typische kurze WG-Szenen, in denen Hanna ihren Mitbewohner Tobi (Leonard Kunz) in seinem Liebeskummer tröstet oder mit Holly (Bineta Hansen) rumalbert, nachdem die beiden ihre selbstgebackenen Hasch-Brownies verzehrt haben; aber selbst in diesen Momenten stehen die Gefühle im Mittelpunkt, weil sie auf eine Nachricht von Anouk wartet. Die Frau hat sie auf der Stelle umgehauen, und Krippendorff sorgt dafür, dass sich das ausgesprochen gut nachvollziehen lässt: Larissa Sirah Herden ist ein Knüller. Als Anouk dann auch noch singt, ist Hanna endgültig hin und weg. Der Gesang ist Herdens Hauptberuf (als Sängerin heißt sie Lary), aber die Schauspielerei sollte sie unbedingt weiter pflegen. Allerdings ist auch Anouk nicht die richtige Frau für Hanna; die Suche geht weiter.
Die Kunst der Drehbücher, die einem ganz ähnlich konzipierten holländischen Vorbild nachempfunden sind ("Anne+”, 2018), besteht in der Reduktion von Komplexität: Was sonst in neunzig Minuten erzählt wird, muss hier in eine Nussschale passen und dabei möglichst ohne Klischees und Stereotype auskommen. Das funktioniert, weil Krippendorff die fünf Episodenhauptdarstellerinnen – in Folge sechs gibt es ein weiteres und diesmal sehr emotionales Wiedersehen mit Franzi – ausgezeichnet ausgewählt hat. Banafshe Hourmazdi macht ihre Sache als Identifikationsfigur ohnehin ganz prima. Sie führt zudem als Erzählerin durch die einzelnen Beziehungen. In Filmen sind Off-Kommentare von Hauptfiguren meist überflüssig. Weil Liebe nun mal kompliziert und widersprüchlich ist, sind Hannas gelegentliche Einblicke in ihre Gefühlswelt jedoch eine gute Ergänzung, zumal sie in den richtigen Momenten schweigt: Die hübsche Medizinstudentin Sarah (Soma Pysall) ist sich über ihre Gefühle nicht im Klaren und weiß nicht mal, ob sie lesbisch ist, also zeigt Krippendorf im geteilten Bildschirm beide Varianten: links Glück, rechts Kummer.
Autorin Marlene Melchior schreibt in einem Statement zu "Loving Her": "Als ich mich selbst als Teenager das erste Mal in ein Mädchen verliebte, habe ich Serien, Geschichten und Erzählungen über queere Frauen und ihre Lebenswelt vermisst." Mittlerweile hat sich in dieser Hinsicht Einiges getan, wenn auch aus Sicht der der LGBTQI-Community selbstverständlich noch längst nicht genug. Leonie Krippendorf ist genau die Richtige für so einen Stoff. Ihr Coming-of-Age-Drama "Kokon" (2020) handelte von einem Mädchen, das in einem Berliner Sommer sich selbst und die Liebe zu einer Älteren entdeckt. Zuvor hatte die Regisseurin "Looping" gedreht; ihr Langfilmdebüt erzählte ebenfalls von der Suche eines Teenagers nach Liebe. Was Hannas Erfahrungen nach Ansicht von Krippendorf "im deutschen Fernsehen weitestgehend unerzählt macht, sind nicht die Beziehungsstrukturen oder die Gründe, warum Hanna sich verliebt, weshalb sie Herzen bricht und ihr eigenes gebrochen wird – es ist einzig und allein der Fakt, dass eine Frau Frauen liebt." Das ist eine weitere Stärke der zuweilen durchaus erotischen Serie: Sie macht keine große Sache draus. Hanna ist lesbisch; na und? Bei einem Partygespräch wird sie gefragt, ob ihr beim Sex nicht was fehle, zum Beispiel ein Penis. Sie antwortet sinngemäß, Penisse habe sie in allen Größen, Formen und Farben unter ihrem Bett liegen. Ungewöhnlich ist allerdings der sehr souverän und beiläufig eingestreute Menstruationsaspekt; das ist gerade im Zusammenhang mit Sex im fiktionalen Fernsehen in der Tat ein Tabuthema.