Berlin (epd). Die Unabhängige Kommission Antiziganismus verlangt von der Politik erhebliche Anstrengungen gegen die Diskriminierung von Sinti und Roma. In ihrem Bericht, den sie am Donnerstag in Berlin vorstellte, kommt sie zu dem Schluss, dass Ausgrenzung und Benachteiligung allgegenwärtig sind - in der Schule, in der Nachbarschaft, auf der Polizeiwache oder vor Gericht. Zudem wirkten sich der nationalsozialistische Völkermord und die sogenannte zweite Verfolgung nach 1945 in der Bundesrepublik bis heute auf die Lebensbedingungen der Minderheiten aus, heißt es in dem Bericht mit dem Titel „Perspektivwechsel - nachholende Gerechtigkeit - Partizipation“, der am Donnerstagabend noch im Bundestag debattiert werden sollte.
Als aktuelle Beispiele für die fortdauernde Diskriminierung nannte die Sprecherin der Kommission, die Hannoveraner Sozialpädagogin und Migrations-Expertin Elizabeta Jonuz, die Absperrung ganzer Wohnblocks während der Corona-Pandemie oder die Abführung eines elfjährigen Kindes in Handschellen. Sie erinnerte auch daran, dass drei der neun Todesopfer des rechtsterroristischen Anschlags in Hanau aus den Gemeinschaften der Sinti und Roma kamen. Der Bericht enthält zahlreiche Schilderungen von Sinti und Roma über ihre Diskriminierungserfahrungen von den 1950er Jahren bis heute.
Die 2019 von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) berufene Kommission ist vom Bundestag beschlossen und beauftragt worden, Antiziganismus in Deutschland wissenschaftlich zu untersuchen und Strategien zu seiner Überwindung aufzuzeigen. Jonuz hob hervor, dass es seit dem Ende des Nationalsozialismus fast 75 Jahre gedauert habe, Antiziganismus erstmals auf die politische Agenda zu setzen. In den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nationalsozialisten wurden rund 500.000 Sinti und Roma ermordet.
Jonuz sagte, die Kommission erwarte die Umsetzung ihrer Forderungen vom nächsten Bundestag und der künftigen Bundesregierung. Es sei an der Zeit, dass die Politik „Wege der Gerechtigkeit und Fairness“ gehe. Die Kommission fordert die Berufung eines Beauftragten gegen Antiziganismus, eines Beirats, in dem Betroffene die Mehrheit bilden und eine Bund-Länder-Kommission, um das Vorgehen gegen Diskriminierung dauerhaft im Regierungshandeln zu verankern. Sie verlangt Ausgleichsleistungen für die Schlechterstellung der Sinti und Roma gegenüber anderen Opfergruppen bei der Wiedergutmachung nach 1945 und die Aufarbeitung dieser erneuten Diskriminierung. Zu den zentralen Forderungen des Gremiums zählt weiter, geflüchtete Roma als besonders schutzwürdige Gruppe anzuerkennen und sie nicht abzuschieben.
Die migrationspolitische Sprecherin und Innen-Expertin der Grünen, Filiz Polat, sagte, die Politik könne ein Zeichen setzen, wenn sie noch in dieser Legislaturperiode eine Bund-Länder-Kommission gegen Antiziganismus einsetze. Die Umsetzung von Maßnahmen, etwa bei der Polizei, obliege den Ländern. Der Bericht zeige „ein erschreckendes Bild.“ Antiziganismus ziehe sich wie ein roter Faden durch die Gesellschaft und die staatlichen Institutionen.
Stärker als von der elfköpfigen Kommission erwartet wirkt sich dem Bericht zufolge zudem der NS-Völkermord und die nach 1945 über Jahrzehnte verweigerte Anerkennung des Genozids aus. Die Täter hätten, etwa als Mitarbeiter von Behörden, erneut über den Umgang mit Sinti und Roma bestimmt. Der SPD-Abgeordnete Helge Lindh sagte, insbesondere dieses Unrecht in der Geschichte der Bundesrepublik müsse noch aufgearbeitet werden.
Sinti und Roma leben seit Jahrhunderten in Europa. Als Sinti werden die Angehörigen der Minderheit bezeichnet, die sich vorwiegend in West- und Mitteleuropa angesiedelt haben. Roma leben zumeist in ost- und südosteuropäischen Ländern. Im Bericht der Kommission werden die Gruppen sprachlich korrekt und gendergerecht als Sintize und Romnja bezeichnet.