epd: Herr Prälat Rose, was war in 14 Amtsjahren die schönste Erfahrung?
Regionalbischof Christian Rose: In der Reutlinger Marienkirche predigt man unter einem Engel, der in 70 Metern Höhe seit Bau der Kirche vor 680 Jahren auf dem Westturm steht. Meine Frau und ich hatten einmal das gefährliche Privileg, mit einem Aufzug ganz hoch zu fahren, um dort dem Engel auf Augenhöhe zu begegnen. Das war eine äußerst aufregende Erfahrung. Besonders schön waren aber auch viele wunderbare Gottesdienste und Empfänge, etwa 2013 mit dem früheren Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, und der damaligen baden-württembergischen Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) zum interkulturellen Dialog.
Wäre so eine Veranstaltung heute wieder dran?
Rose: Ja - wenn ich etwa an den jüngsten Brandanschlag an der Ulmer Synagoge denke. Es werden Kräfte in unserer Gesellschaft immer frecher, immer dreister und versuchen, ihrem Antisemitismus und ihrer Fremdenfeindlichkeit freien Lauf zu lassen - ohne Scham oder irgendwelche Zurückhaltung. Die Kirche muss in diesen Tagen wieder sehr deutlich das Wort ergreifen, vor Synagogen hinstehen, Solidarität zeigen.
Was war die schwerste Erfahrung Ihrer Amtszeit?
Rose: Besonders schwer war für mich hier in Reutlingen die Entwidmung der Leonhardskirche 2010. Eine Frau kam nach dem Gottesdienst auf mich zu und sagte: „Herr Prälat, jetzt haben Sie mir meine Heimat genommen.“ Sie war selbst in dieser Kirche getauft, konfirmiert und getraut worden, die eigenen Kinder ebenfalls. Außerdem engagierte sie sich ehrenamtlich stark - und plötzlich war ihre Kirche weg. Manche Mitglieder dieser Gemeinde weigerten sich dann lange, den Gottesdienst an einem anderen Ort zu besuchen.
Entwidmungen wird es in Zukunft ja vermutlich noch häufiger geben. Haben Sie einen Rat für die kirchlichen Akteure?
Rose: Ein Rezept gibt es in solchen Situationen nicht. Es gelingt dort gut, wo die handelnden Personen zusammenhalten und miteinander etwas Neues überlegen und nicht nur abbauen. Der Neurobiologe Gerald Hüther sagt: Veränderung gelingt nur durch Begeisterung. Das ist natürlich alles andere als einfach, wenn Räume abgegeben werden müssen.
Ist das System, zwischen den Kirchenbezirken (Dekanaten) und dem Oberkirchenrat in Stuttgart die Ebene der vier Prälaturen zu haben, noch sinnvoll und zeitgemäß?
"Ich bin so etwas wie ein Libero in der Kirche. Ich kann als Brückenbauer zwischen dem Oberkirchenrat und den Gemeinden und Kirchenbezirken dienen."
Rose: Dazu gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen. Die einen sehen darin eher so etwas wie einen Blinddarm, den man problemlos entfernen könnte, die anderen sind von der Notwendigkeit völlig überzeugt. Aus meiner Sicht ist ein großer Vorteil: Ich bin so etwas wie ein Libero in der Kirche. Ich kann als Brückenbauer zwischen dem Oberkirchenrat und den Gemeinden und Kirchenbezirken dienen. Weil ich viel in den Gemeinden unterwegs bin, kenne ich die Situation vor Ort sehr gut und diene gleichsam als Scharnier in die Kirchenleitung hinein. Ich halte es für eine kluge Entscheidung, dass es dieses Amt gibt - andere Kirchen haben es nicht.
Ließe sich angesichts der sinkenden Mitgliederzahl mittelfristig eine Prälatur einsparen?
Rose: Das wird so kommen. Gleichzeitig denkt man darüber nach, die Aufgaben von Prälaturen zu verändern, dass beispielsweise eine Prälatin das Thema Digitalisierung stellvertretend für alle vorantreibt. Ein Prälat könnte also nicht nur eine regionale Zuständigkeit haben, sondern eine fachliche Zuständigkeit zu einem Thema für die ganze Landeskirche. Wenn man allerdings in den Regionen als Prälat wirklich präsent sein möchte, dann ist die jetzige Größe der vier Prälaturen schon deutlich zu groß.
Einer Ihrer Aufträge war: Seelsorge an den Pfarrern in Ihrem Sprengel. Wie geht es den Pfarrern im Jahr 2021?
Rose: Viele sind am Rande ihrer Kraft. Auch wegen der Frage, wie es weitergeht nach der Pandemie. Wir haben in den zurückliegenden Jahren vieles gemacht für unsere Kolleginnen und Kollegen. Wir haben das Pastoralkolleg ausgebaut. Jede Pfarrperson kann heute selbstverständlich Supervision in Anspruch nehmen. Das war früher nicht so. Es gibt heute also deutlich mehr Angebote zur Prävention und zur Krisenbewältigung, und das halte ich auch für sehr wichtig.
Positiv ist: Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die aus der Not eine Tugend gemacht haben, die einen richtigen Schub an kreativen Ideen erlebt haben. Die Corona-Beschränkungen haben die Digitalisierung beschleunigt. Davon wird vieles bleiben auch nach der Pandemie.
Sie sind der einzige Prälat in Württemberg, der eine eigene Pressesprecherin hat. Sollte das nicht jede Prälatur haben?
Rose: Das wäre tatsächlich das Beste. In der aktuellen Situation war ich allerdings schon froh, dass wir die halbe Stelle in meiner Prälatur halten konnten. Das ist angesichts von Sparvorgaben alles andere als selbstverständlich.
Sie haben jährlich ein Gespräch von Kirche und Wirtschaft organisiert. Was haben Sie darüber gelernt, wie Unternehmer die Kirche sehen?
Rose: Unternehmer wollen entscheiden, was mit ihrem Geld und mit ihrer Kompetenz passiert. Die sind keine Freunde von Solidarsystemen. Die sagen mir: Ich will wissen, wo meine Kirchensteuer hingeht. Ich kenne einen Unternehmer, der aus der Kirche ausgetreten ist, aber ganz gezielt eine spezielle kirchliche Arbeit unterstützt, weil er sie so großartig findet. Ich hatte auch Kontakt zu einer Reihe von Wirtschaftsleuten, die sagten, sie wären bereit sich einzubringen - aber zu ihren eigenen Konditionen. Da kommen wir mit unseren kirchlichen Ordnungen und Verfahrensweisen an unsere Grenzen.
Sie haben viele Themen bearbeitet - vom Umgang mit Flüchtlingen über die Wiederentdeckung des Klostergedankens bis hin zu Öko-Projekten zur Bewahrung der Schöpfung. Hatten Sie so etwas wie ein „Lieblings-Baby“ in Ihrer Arbeit?
"In den vergangenen Jahren ist die Frage der Spiritualität für mich wichtiger geworden, die Unterstützung des Klostergedankens."
Rose: Besonders wichtig war mir der stellvertretende Vorsitz in der Stiftung der BruderhausDiakonie, den ich seit 2008 innehabe. Ebenfalls seit diesem Jahr bin ich Vorsitzender des Landesverbands für Kindertagesstätten. Kirche darf sich auf keinen Fall aus der Kindergartenarbeit herausziehen. In den vergangenen Jahren ist die Frage der Spiritualität für mich wichtiger geworden, die Unterstützung des Klostergedankens. Dabei geht es mir auch um die Pfarrerinnen und Pfarrer, die geistliche Heimat suchen und brauchen.
Was haben Sie sich für den Ruhestand vorgenommen?
Rose: Wir sind in den Nachbarort von Reutlingen, nach Eningen unter Achalm gezogen. Zwei unsere Kinder haben sich hier in der Region niedergelassen, deshalb wollen wir auch hierbleiben. Grundsätzlich finde ich es zwar besser, wenn man nach Ende seiner Amtszeit das Terrain verlässt. Aber ich kündige hiermit an: Ich werde mich aus den Dingen heraushalten. Viele Ämter in Gremien habe ich bereits abgegeben oder werde sie in den nächsten Monaten abgeben. Weiter machen möchte ich noch im bundesweiten Leitungskreis Evangelischer Zisterzienser-Erben.
Bestimmte Aufgaben würde ich am liebsten direkt meinem Nachfolger oder meine Nachfolgerin übergeben, deshalb habe ich mich daraus auch noch nicht verabschiedet. So bin ich der Meinung, dass der Reutlinger Prälat in der Leitung der BruderhausDiakonie vertreten sein muss. Ähnliches gilt für den Landesverband für Kindertagesstätten, weil hier Kirche und Kommunen hervorragend zusammenarbeiten - das sollte so bleiben. Aber das kann natürlich nicht ich entscheiden, da kommt es auch auf die Position meines Nachfolgers und die jeweiligen Gremien an.
Wäre jetzt nicht erstmal Urlaub dran?
Rose: In der ersten Juli-Woche werde ich mit zwei meiner Enkel mit dem Wohnmobil durch Deutschland fahren. Wir wollen in Naturparks und in die Lüneburger Heide. Und mit meiner Frau werde ich den Meraner Höhenweg machen. Außerdem haben wir uns inzwischen E-Bikes gekauft und planen einige Ausfahrten. Ich genieße Wandern, Joggen, Fahrradfahren.