Am Anfang war der Freudentaumel, am Ende überwog die Katerstimmung: Der Stachel der Nachwendezeit sitzt nach wie vor tief. Die Demütigungen jener Jahre, als viele Menschen im Osten die Wiedervereinigung eher wie einen Anschluss empfanden, ist immer noch nicht aufgearbeitet. Florian Aigners intensives und hochklassig gespieltes Debüt könnte einen Teil dazu beitragen, zumal er seine Geschichte geschickt als tragische "Romeo und Julia"-Romanze verpackt hat: Teenager Katja (Emilie Neumeister) aus Westberlin verliebt sich im Sommer 1990 in Thorben aus dem Osten. Ihre Liebe steht jedoch unter einem schlechten Stern: Thorben lebt mit seinen Eltern in just jenem Haus, das einst Katjas Großvater gehörte. Nach dessen Ausreise in den Westen wurde es enteignet; jetzt will sich sein Sohn, Alexander (Andreas Döhler), das Eigentum zurückholen. Thorbens Eltern, Erwin und Beatrice (Uwe Preuss, Judith Engel), sind sich keiner Schuld bewusst und wollen das Haus nicht räumen, weshalb es mehrfach zu heftigen Streitereien kommt. Sie wären sogar bereit, Alexander ihre gesamten Ersparnisse zu überlassen, aber Katjas Vater bleibt hart, und natürlich wird die Auseinandersetzung schließlich auf dem Rücken der Kinder ausgetragen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Weil Aigner, der auch das Drehbuch geschrieben hat, die Beziehung zwischen Katja und Thorben facettenreich, mit viel Empathie und großer Zuneigung erzählt, wirken die Eltern umso eindimensionaler. Das hat allerdings seine Berechtigung, denn gerade Beatrice betrachtet die Querelen als Klassenkampf. Das lässt die entsprechenden Wortwechsel mitunter klischeehaft und aus neutraler Perspektive fast unfreiwillig komisch erscheinen, zeigt aber sehr realistisch, wie unversöhnlich beide Seiten agieren: Thorben wollte Katja von der Schule abholen, hat sich von zwei Jungs durch Ossiwitze provozieren lassen und einen schlichtenden Mitschüler niedergeschlagen. Als Katja ihm später klarmachen will, dass der junge Mann einer von den Guten und bei der Antifa sei, sagt seine Mutter: "Was links ist, bestimmen immer noch wir." Dieser Ausspruch steht sinnbildlich für die Selbstgerechtigkeit, mit der sich die Hauskampfparteien begegnen. Sobald Alexander und Beatrice aufeinander treffen, fallen unvermeidlich Begriffe wie "Stasi-Methoden" und "Faschist". Dass Beatrice ihre Arbeit verloren hat, weil ein westdeutsches Unternehmen ihren Betrieb aufgekauft hat, und zwar mit einem Kredit just jener Bank, für die Alexander arbeitet, lässt sie gar an ein Komplott glauben.
Daraus hätte leicht ein Lehrstück mit permanent präsentem Zeigefinger werden können, aber weil sich Aigner auf die Perspektive der Jugendlichen konzentriert, ist "Im Niemandsland" in erster Linie ein "Coming of Age"-Drama: In einem Alter, das ohnehin von Unordnung und frühem Leid geprägt ist, haben Katja und Thorben das Pech, auch noch zwischen die Fronten zu geraten. Darauf spielt auch der Titel an: Im Niemandsland zwischen den früheren Grenzen verbringen sie ihre erste gemeinsame Nacht. Diese Seeszene ist trotz des Mondes, der sich im Wasser spiegelt, kein bisschen kitschig; dafür ist die Beziehung des jungen Paars viel zu fragil. Gerade Katja hat zudem noch ganz andere Probleme, denn sie weiß, dass ihre Mutter (Lisa Hagmeister), der der Gatte mit seiner Sturheit zunehmend peinlich wird, vormittags gern zum Nachbarn (Karsten Antonio Mielke) schleicht. Dennoch wirkt der Film nie überfrachtet; die vielen verschiedenen und zum Teil auch widersprüchlichen Emotionen steigern bloß den Zustand von Katjas typischer Teenagerverwirrung. Thorben ergeht es ähnlich; der einzige Erwachsene, der rückhaltlos zu ihm steht, ist sein Handballtrainer (Shenja Lacher). Die Ventile, die die Jugendlichen finden, mögen ebenfalls stereotyp wirken, sind aber lebensnah: Bei Katja äußert sich der psychische Stress in Neurodermitis, bei Thorben in impulsiven Gewaltausbrüchen. Eine dieser Eruptionen führt schließlich zu einer Kurzschlusshandlung, die den Film beinahe in eine Tragödie münden lässt.
Es spricht für Aigners Drehbuch, dass er sich für seinen ersten Langfilm ein derart gutes Ensemble zusammenstellen konnte, aber die Stars sind trotzdem Emilie Neumeister und Ludwig Simon. Beide bestätigen das große Talent, das sie schon früher gezeigt haben; Neumeister neben kleineren Rollen vor allem in "Eltern mit Hindernissen" (2020) als jugendliche Tochter, die sich angesichts einer neugeborenen kleinen Schwester überflüssig fühlt. Ludwig Simon wiederum, Sohn von Maria Simon und Devid Striesow, an dessen Seite er als Sohn des Kommissars im "Tatort" aus Saarbrücken mitgewirkt hat, war die perfekte Wahl für den abenteuerlustigen Prinzen in Ngo The Chaus hochklassigem Regiedebüt "Schneewittchen und der Zauber der Zwerge" (2019). Die ungleich erfahreneren Mitwirkenden sind ohnehin sehenswert. Gerade Andreas Döhler, stets eine gute Wahl, wenn eine Figur von Düsternis oder inneren Dämonen gepeinigt wird (wie zuletzt als depressiver Vater in dem ZDF-Jugendrama "Das Versprechen"), verkörpert Alexanders Kampf um Wiedergutmachung mit einem an Besessenheit grenzenden Eifer. Die Bildgestaltung ist zwar im Gegensatz zur sehr präsenten Musik (Florian Gwinner) nicht weiter ungewöhnlich, aber dennoch fällt "Im Niemandsland" optisch aus dem Rahmen: Mit Hilfe von "Tagesschau"-Ausschnitten und anderen zeitgenössischen Aufnahmen verknüpft Aigner die Ereignisse in Kleinmachnow mit den verschiedenen Stationen des Vereinigungsprozesses. Damit sich die beiden Bildebenen ergänzen, hat er den Film im Format 4:3 gedreht. Das Zeitkolorit ist vor allem dank des Kostümbilds ohnehin gut getroffen.