Der zweite "Masuren-Krimi" mit Claudia Eislinger als Berliner Kriminaltechnikerin, die nach dem vermeintlichen Tod ihres Onkels in die alte Heimat zurückkehrt, ist fast zwangsläufig nicht mehr ganz so fesselnd, weil die Hauptfigur enträtselt ist. Es gibt zwar immer noch einige offene Fragen, an denen eine etwaige Fortsetzung anknüpfen könnte, aber zumindest wird klar, warum sich die Hauptfigur innerlich derart konsequent von der Welt zurückgezogen hat.
Der Reiz von "Fangschuss" muss daher größtenteils aus der kriminalistischen Ebene resultieren, und die bewegt sich auf üblichem Kriminiveau. Immerhin ist Viktorias Beteiligung plausibel eingefädelt: Nachbar und Ortspolizist Leon (Sebastian Hülk) will sie gerade zum Bahnhof bringen, als er vom Wildhüter per SMS darüber informiert wird, dass Wilderer ein Wisent getötet haben. Das Tier ist in ein Fangeisen geraten, der Wildhüter hat es offenbar von seinem Leid erlöst, ist kurz drauf allerdings seinerseits erschossen worden. Viktoria braucht nicht lange, um zu erkennen, dass er die SMS unmöglich selbst geschrieben haben kann: Er ist schon vor Stunden gestorben. Da ihr Zug ohnehin längst weg ist, verschiebt sie ihre Abreise kurzerhand, um Leon bei den Ermittlungen zu helfen.
Handwerklich knüpft der "Fangschuss" nahtlos an die Qualität von "Fryderyks Erbe" an, zumal das Team hinter der Kamera das gleiche ist; Bildgestaltung und Musik bewegen sich erneut auf hohem Niveau. Die Geschichte muss jedoch ohne die persönliche Betroffenheit der Heldin auskommen. Das war im ersten Film, als sie plötzlich mit ihrem scheinbar wiederauferstandenen Onkel konfrontiert wurde, natürlich ganz anders. Zwar lässt Autorin Ulli Stephan, deren Drehbuch diesmal nach einer Idee von Thomas Oliver Walendy entstanden ist, die persönliche Ebene einfließen, weil Viktoria Fryderyk (Wieslaw Zanowicz) im Gefängnis besucht, aber abgesehen von der grundsätzlichen Leidenschaft für ihren Beruf und der offenkundigen Freude am Lösen von Rätseln ist die Ermordung des Wilderers für Viktoria ein Fall wie jeder andere.
Etwas schlicht ist diesmal auch die Besetzung ausgefallen. Für die vierschrötigen Wilderer zum Beispiel hat Regisseur Anno Saul einheimische Schauspieler ausgewählt, die schon beim ersten Auftritt ein unsichtbares Fähnchen mit der Aufschrift "Schurke" schwenken. Die Mitwirkung von Alexander Held als Besitzer eines Wildparks, aus dem das getötete Tier stammt, sowie Janina Stopper als Tochter und Wisentzüchterin sorgen zwar für eine gewisse schauspielerische Klasse, aber beide spielen nur Nebenfiguren.
Sehenswert ist jedoch nach wie vor Claudia Eisinger, die ihre Rolle facettenreich anlegt und sich offenbar eine sehr stabile Basis für die Figur geschaffen hat; Viktorias Hantieren mit der kriminaltechnischen Ausstattung wirkt ebenso glaubwürdig wie ihr distanzierter Umgang mit den Mitmenschen. Da sie diesmal einfach nur ihren Job erledigt, kann sich der Film zwischendurch auch kleine Humoresken erlauben: Weil Leons Ex-Frau Zofia (Karolina Lodyga), die zuständige Kommissarin, ihr zugesichert hat, sie könne jederzeit ins Labor, halten die Polizisten sie am späten Abend für einen Eindringling und stecken sie in eine Zelle. Später lässt sie sich breitschlagen, als "verdeckte Ermittlerin" dem illegalen Handel mit Wisentfleisch nachzuspüren.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Buch, Regie und Hauptdarstellerin haben sich bei Entwurf und Umsetzung der Figur ohnehin immer wieder mal bei jenen unverkennbaren Verhaltensweisen bedient, mit denen Filme gern Menschen mit Autismus charakterisieren. Viktoria erklärt ihre Abneigung gegen das Händeschütteln zwar mit einer Abneigung gegen Bakterien, reduziert aber beispielsweise auch Sex auf hormonelle Prozesse und lässt sich grundsätzlich keinerlei Gefühlsregung anmerken. Das passt, weil sie sich nach der Ermordung ihres Mannes emotional abgekapselt hat, weshalb ein romantischer Abend mit Leon am Lagerfeuer fast wie ein Prinzipienverstoß wirkt.
Einzig Leons Tochter Emilia (Matilda Jork) gelingt es, sie aus der Reserve zu locken, und es wird kein Zufall sein, dass die Zwiegespräche an die Rückblenden mit der kleinen Viktoria und ihrem Onkel erinnern. Diese Bilder hat Kameramann Martin L. Ludwig in ein verklärendes Licht getaucht, das einen deutlichen Gegensatz zu den dunklen Farbtönen der Gegenwart bildet. Am Ende bietet Zofia der Kriminaltechnikerin einen Job an. Ob Eisinger die Chance bekommt, das Potenzial ihrer Rolle weiter auszuschöpfen, macht die ARD-Tochter Degeto jedoch davon abhängig, wie gut die ersten beiden Filme beim Publikum ankommen.