Martina Petersen betritt um Punkt 18 Uhr ihren Balkon. Seit einem Jahr macht sie das montags bis donnerstags - allerdings nie zum Blumengießen oder Füße-Hochlegen. Stattdessen klemmt sie ein paar Papiere an den Notenständer, der inmitten der vielen Pflanzen kaum auffällt. Petersen atmet tief ein, dann erfüllt ihre kraftvolle Sopranstimme den Hinterhof ihres Wohnblocks in Hannover-Vahrenwald. Der Mozart-Kanon "Dona nobis pacem" ist bis in jede Ecke zu hören.
Was Außenstehende verwirren könnte, irritiert in Petersens Nachbarschaft niemanden mehr. Während des ersten Corona-Lockdowns im März vergangenen Jahres rief die Evangelische Kirche in Deutschland die Menschen auf, das Lied "Der Mond ist aufgegangen" zu singen. In spanischen und italienischen Städten hatten Menschen zuvor das Balkonsingen begonnen. Martina Petersen machte mit, jeden Abend - und hörte einfach nicht wieder auf. "Jetzt muss ich mich richtig abmelden, wenn ich an einem Abend mal nicht singe", sagt die Sängerin, die eine Praxis für Stimmtherapie betreibt und seit langem in Chören und als Solistin auftritt.
Applaus aus dem Hinterhof
Nachbar Bernd Zielinski steht an diesem Abend als einziger Zuhörer direkt vor Petersens Balkon. "Sonst ist hier mehr los. Oft setzen sich viele Kinder hierhin und hören zu", sagt er. Dieses Mal hatte es jedoch vor dem Auftritt kräftig gewittert - und die Kinder waren nach drinnen gegangen. Auch auf den Balkonen steht offenbar weniger Publikum als sonst. Doch weder Petersen noch ihr einziger gut sichtbarer Zuschauer lassen sich davon beirren, dass der Applaus nach "Dona nobis pacem" noch zaghaft ausfällt.
Munter singt sie nun "Die Gedanken sind frei" und "Der Mond ist aufgegangen", danach gefühlvoll die Händel-Arie "Lascia ch’io pianga". "Jetzt sind sie auch aufgewacht", stellt Zielinski zufrieden fest, als Nachbarn aus einer weiteren Ecke des Hinterhofs klatschen. Wie viele Menschen ihr tatsächlich gelauscht haben, lässt sich erst nach Beethovens "Ode an die Freude" erahnen, die Hannoveranerin jeden Abend zum Abschluss singt. Viele Fenster stehen geöffnet, der Beifall fällt nun noch einmal deutlich lauter aus. "Tschüss und Dankeschön", ruft eine Nachbarin.
"Erst habe ich mir gewünscht, dass die Leute mitsingen", sagt Petersen. "Aber sie haben lieber zugehört." So habe sie nach einiger Zeit jeden Abend verschiedene Stücke in ihr Repertoire genommen. Seit ein Nachbar das als Ruhestörung bei der Wohngenossenschaft beanstandete, singt sie früher als zu Anfang und nur noch viermal wöchentlich. Der Winter oder schlechtes Wetter hätten sie aber nie davon abgehalten.
Gesang habe Miteinander verbessert
Insgesamt habe ihr Gesang das Miteinander in der Nachbarschaft verbessert, meint sie: "Als ich mal zwei Minuten zu spät auf meinen Balkon kam, haben sich die Menschen unterhalten." In einer kleinen Kiste bewahrt sie Grußkarten auf, auf denen sich Menschen bedanken. Ein Kind habe ihr schon einen Kuchen gebacken. Sie hoffe, dass es sich später an die kleinen Balkonkonzerte erinnert.
Zielinski sagt, auch ihm bedeute der musikalische Zuspruch der Nachbarin viel. Seine Frau sei schwer krank und könne nicht mehr aus dem Haus gehen. Die Corona-Pandemie belaste ihn zusätzlich. Petersens Stimme biete ihm zehn bis fünfzehn Minuten Besinnlichkeit am Tag. "Keiner hätte gedacht, dass sich das so fürchterlich lang hinzieht", sagt Zielinski. Die Pandemie, stellt er klar - nicht Petersens abendlicher Gesang. Der dürfe ruhig noch länger andauern als Corona.