Die Thrillermusik (Hannah von Hübbenet, Philipp Kobilke) sorgt zudem dafür, dass "St. Pauli, 06:07 Uhr" wie Kino klingt. Dazu passt auch die Geschichte, die sich Serienschöpfer Norbert Eberlein ausgedacht hat: Auf dem Heimweg von der Nachtschicht mischt sich Nina Sieveking (Wanda Perdelwitz) ein, als zwei Männer in der U-Bahn einen Straßenmusiker anpöbeln. Prompt knöpfen sich die Typen die Polizistin vor. Als der Zug in die Station St. Pauli einfährt, gehen die Schläge und Tritte auf dem Bahnsteig weiter. Weil Nina einen Notruf über ihr Funkgerät absetzen kann, müssen die Kolleginnen und Kollegen in der Wache hilflos mit anhören, wie sie krankenhausreif geprügelt wird; und dann zückt einer der Männer ein Teppichmesser. Zu allem Überfluss verliert sie auch noch die Dienstwaffe. Als wenige Tage später einer der Schläger erschossen wird, steht Nina unter Mordverdacht: Die Tat ist mit ihrer Pistole begangen worden; die Aufnahmen der Überwachungskamera am Bahnsteig zeigen zweifelsfrei, wie sie die Waffe an sich nimmt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Was wie eine typische Rachegeschichte à la "Eine Polizistin sieht rot" klingt, entpuppt sich als sehenswertes Psychogramm einer Frau, die nicht wahrhaben will, dass sie unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Wie in vielen anderen vermeintlich typischen Männerberufen stehen auch Polizistinnen unter besonderer Beobachtung und entsprechendem Druck, weil ihnen nicht zugetraut wird, mit den speziellen Herausforderungen des Alltags fertig zu werden; deshalb will sich Nina nichts anmerken lassen. Die ärztliche Untersuchung, die Polizeioberrätin Küppers (Saskia Fischer) ihr dringend empfiehlt, schiebt sie vor sich her. Aber die Rückkehr zur Routine kann selbstverständlich nicht funktionieren, zumal das Geräusch eines fahrenden U-Bahn-Zuges genügt, um eine Panikattacke auszulösen. Zum fesselnden Krimi wird der Film durch ein Phantom im toten Winkel: Nina schwört, dass auf dem Bahnsteig eine weitere Person gewesen sei, aber auf den Kamerabildern ist niemand zu erkennen; ein Zeuge (Heiko Pinkowski), der die Polizei alarmiert hat, hat ebenfalls niemanden gesehen. Das Gelächter des dritten Mannes hat sich Nina jedoch regelrecht eingebrannt. Als ihr Partner (Patrick Abozen) sie in ein Lokal mitnimmt, erkennt sie die unverkennbare Lache des Wirts wieder. Sie ist fest entschlossen, die Rechnung mit Blei zu begleichen. Mit dieser Szene beginnt der Krimi auch: Nach Feierabend steht die Polizistin bewaffnet vor dem Imbiss; dann blendet der Film zurück und erzählt, was sich zehn Tage zuvor zugetragen hat.
Sehenswert ist "St. Pauli, 06:07 Uhr" nicht zuletzt wegen des größeren Zusammenhangs, in den Eberlein die Geschichte bettet. Für dieses große Ganze sorgt Heinz Hoenig mit einem Gastauftritt: Bei einer Stippvisite im Revier erinnert sich der Besucher an die vermeintlich gute alte Zeit im Kiez. Der Auftritt wirkt zunächst wie eine Hommage an den langjährigen und 2019 verstorbenen "Großstadtrevier"-Hauptdarsteller Jan Fedder: Der junge Dirk Mathies hat einst für Schlagzeilen gesorgt, als er den Anführer der "Schoko-Bande" festgenommen hat. Erst viel später stellt Eberlein den verblüffenden Bezug zum Überfall auf die Polizistin her, und plötzlich entpuppt sich dieses Ereignis als raffiniertes abgekartetes Spiel, in dem Nina zur unfreiwilligen Hauptfigur geworden ist.
Viele Momente sind dank Musik und Bildgestaltung (Anne Misselwitz) sehr intensiv. Gerade die Prügelszene geht an die Nieren, weil Félix Koch nicht die Schläge, sondern die entsetzten Gesichter der Kolleginnen und Kollegen zeigt; der Rest spielt sich im Kopf ab. Bei einigen Ensembleauftritten kann der Film seine Vorabendwurzeln allerdings nicht verleugnen, und manch’ ein Außendrehort ist optisch ein bisschen abgenutzt. Völlig überflüssig ist auch ein Off-Monolog der Chefin, die kurz vor dem Finale noch mal den Zusammenhang zwischen "Schoko-Willy" und der Gegenwart erläutert. Nicht nur für die Serie, auch für den aus Luxemburg stammenden Regisseur, der zuletzt mehrere "Großstadtrevier"-Folgen inszeniert hat, ist der Ausflug ins Hauptabendprogramm die deutsche Fernsehfilmpremiere. Respekt verdient auch die Opferbereitschaft von Hauptdarstellerin Perdelwitz, die sich für diesen Film von ihren langen Haaren getrennt hat.