Die Bilder sind kaum auszuhalten, aber noch schlimmer ist die Tonspur: Wenn die neunjährige Benni ausrastet, dann schreit sie sich die Seele aus dem Leib; und sie hört erst wieder auf, wenn sie ein starkes Beruhigungsmittel bekommen hat. Da diese Momente oft auch mit Wutanfällen einher gehen, kommt es schließlich zu einer erschütternden Szene, die sich einbrennt: Weil ein kleiner Junge beim Gerangel um ein Eis den Fehler begeht, das Mädchen im Gesicht zu berühren, schlägt Benni seinen Kopf wieder und wieder auf den Boden. Der Kinofilm "Systemsprenger" war der Überraschungserfolg des Jahres 2019. Das Sozialdrama von Regiedebütantin Nora Fingscheidt ist mit Auszeichnungen geradezu überschüttet worden, darunter allein acht Würdigungen beim Deutschen Filmpreis. Die Leistung von Helene Zangel ist schlicht sensationell; kein Wunder, dass sie mittlerweile auch mit Tom Hanks gedreht hat ("Neues aus der Welt", 2020). Wie die Regisseurin ihre junge Hauptdarstellerin geführt hat, ist in der Tat alle Preise wert. Respekt gebührt auch dem ZDF, dass es diesen schwierigen zweistündigen Film, eine Koproduktion der Redaktion Das kleine Fernsehspiel, um 20.15 Uhr zeigt, zumal Fingscheidt, die auch das Drehbuch geschrieben hat, auf eine klassische Dramaturgie verzichtet.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das Werk wirkt ohnehin fast dokumentarisch: Die Kamera begleitet das Kind quasi auf Schritt und Tritt. Warum es so ist, wie es ist, wird nur angedeutet. Die panische Reaktion, wenn jemand ihr ins Gesicht fasst, rührt von einem frühkindlichen Gewalttrauma: Als Benni ein Baby war, sind ihr die vollen Windeln in Gesicht gedrückt worden. Ein Besuch bei ihrer Mutter verdeutlicht, warum sie woanders besser aufgehoben ist: Bianca (Lisa Hagmeister) ist mit dieser tickenden Zeitbombe, die jederzeit und immer wieder explodieren kann, komplett überfordert. In einer weiteren von vielen furchtbaren Szenen schlägt Benni ihre Mutter mit einer Kunstkeramik nieder, woraufhin Biancas Freund ihr einen Fausthieb verpasst und sie in den Schrank sperrt. Fingscheidt muss diese Momente gar nicht besonders inszenieren; die Ereignisse sind so unerhört, dass sie für sich sprechen. Der Film verlässt die dokumentarische Erzählwiese im Grunde nur, wenn die Wut wie eine Welle über Benni schwappt und sie buchstäblich Rot sieht. Anschließend rast sie gern davon, verfolgt von einer entfesselten Kamera (Yunus Roy Immer) und angetrieben von einer Musik (John Gürtler), die in diesen Momenten ein enormes Tempo anschlägt.
Natürlich erzählt "Systemsprenger" von einem Schrei nach Liebe: Das Mädchen will nichts anderes als zu seiner Mutter zurück. Mindestens so berührend wie das traurige Schicksal der jungen Hauptfigur ist daher die Hilflosigkeit der Menschen, die sich des Kindswohls angenommen haben. Eine besondere Rolle spielt dabei Gabriela Maria Schmeide als Frau Bafané vom Sozialen Dienst. Weil es nie lange dauert, bis Benni wieder für einen Eklat sorgt, hat sie eine regelrechte Odyssee hinter sich. Deshalb landet sie immer wieder in der Inobhutnahmestelle für Kinder, die vom Jugendamt aus zerrütteten Familien geholt werden, aber auch hier kann sie nicht bleiben. Eine Ärztin schlägt daher vor, sie in eine Intensivbetreuung ins Ausland zu schicken. Letzte Hoffnung für Benni ist ein Gewalttherapeut, der normalerweise mit straffälligen Jugendlichen arbeitet. Micha Heller (Albrecht Schuch) hat selbst einschlägige Erfahrungen gemacht und weiß, wie es ist, wenn die Hauptsicherung durchknallt. Er zieht sich mit dem Kind drei Wochen in eine Waldhütte zurück. Dort gibt es weder Strom noch fließendes Wasser; und natürlich auch kein Fernsehen. Tatsächlich kommt Benni endlich zur Ruhe, aber damit es nach der Rückkehr in die Zivilisation prompt wieder vorbei, und weil Micha die emotionale Distanz verliert, muss er schließlich gar um das Leben seines Babys fürchten. Kurz ergibt sich ein Hoffnungsschimmer, als Bianca mitteilt, sie habe sich von ihrem Freund getrennt und könne die Tochter wieder zu sich nehmen, aber als sie einen Rückzieher macht, ist selbst die Engelsgeduld von Frau Bafané erschöpft.
Die unmittelbare Wirkung des Films resultiert nicht zuletzt aus Bennis Erscheinung: Wenn sie nicht gerade wieder mal eine Kaskade unflätiger Schimpfwörter über die Erwachsenen ergießt, kann sie ein reizendes Mädchen sein, das durchaus liebevoll mit kleineren Kindern umgeht; bis sie nach der nächsten Provokation wieder jede Kontrolle verliert. Die abgrundtiefe Verachtung, die in solchen Momenten aus ihren Blicken spricht, erinnert frappierend an den kindlichen Antichristen aus der vierzig Jahre alten Filmreihe "Das Omen". Das ZDF bettet den Film in einen Programmschwerpunkt: Im Anschluss zeigt das "Zweite" die Dokumentation "Schrei nach Liebe – Wie Kinder zu Systemsprengern werden", morgen um 22.15 Uhr die "37 Grad"-Reportage "Die Wütenden: Wenn Kinder das System sprengen". Heute um 0.50 Uhr wiederholt das ZDF zudem das Drama "Die Tochter", ebenfalls mit Helena Zangel in der Titelrolle eines siebenjährigen Mädchens, das die neue Liebe ihrer getrennten Eltern bekämpft.