Berlin (epd). Der Publizist und Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik plädiert dafür, die Bundestagsresolution zur umstrittenen BDS-Kampagne zurückzuziehen. Wissenschaftler, Künstler und Intellektuelle egal welcher Herkunft dürften künftig "in Kommunen und städtischen Kulturräumen nicht mehr diskriminiert werden, weil ihnen Beziehungen welcher Art auch immer zu BDS vorgeworfen werden", sagte Brumlik dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Berlin. Er hoffe darauf, dass eine künftige Bundesregierung oder Parlamentsmehrheit den Beschluss zur Kampagne "Boycott, Divestment and Sanctions" ("Boykott, Desinvestition und Sanktionen") von 2019 zurücknehmen werde. Der Erziehungswissenschaftler gehört zu den Unterzeichnern der Ende März veröffentlichten "Jerusalemer Erklärung", in der mehr als 200 internationale Holocaustforscherinnen und -forscher eine neue Definition von Antisemitismus fordern.
Der Bundestag hatte im Mai 2019 den Israel-Boykott der BDS-Bewegung verurteilt und deren Argumentationsmuster und Methoden als antisemitisch gewertet. Das Parlament forderte die Bundesregierung auf, keine Veranstaltungen von BDS-Anhängern zu unterstützen. Die BDS-Kampagne wurde 2005 von mehr als 170 palästinensischen Organisationen gestartet. Inzwischen wird sie von zahlreichen Organisationen und Einzelpersonen weltweit unterstützt.
Brumlik betonte, Boykott, Desinvestition und Sanktionen seien gängige und gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten und im Falle Israels nicht per se antisemitisch. "Das gilt unabhängig davon, ob man die Ansicht gutheißt oder nicht", sagte der Seniorprofessor am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. "Ich persönlich halte BDS in vielen Hinsichten für politisch falsch und misslungen, aber nicht alles, was politisch falsch oder misslungen ist, ist deswegen sofort antisemitisch." So sehe er es etwa als schweren Fehler an, dass BDS auch Personen mit israelischer Staatsangehörigkeit boykottiere, die der Besatzungspolitik kritisch gegenüberstehen.
Der 73-Jährige warb zugleich für eine neue Definition von Antisemitismus im Sinne der "Jerusalemer Erklärung". Die bisher vielfach genutzte Arbeitsdefinition der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA) von 2016 könne dazu führen, "jegliche Kritik an der israelischen Siedlungs- und Besatzungspolitik als antisemitisch zu brandmarken", sagte Brumlik, der auch emeritierter Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main ist. Der neue Vorschlag korrigiere diese Gefahr einer "missbräuchlichen und falschen Verwendung". Er unterscheide deutlich zwischen politischer Kritik an der israelischen Regierung und Judenfeindlichkeit im Allgemeinen.
In der vierseitigen "Jerusalemer Erklärung" wird Antisemitismus bestimmt als "Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Institutionen als jüdische)". Die Definition der IHRA aus dem Jahr 2016, der sich die Bundesregierung 2017 anschloss, besagt unter anderem, dass Erscheinungsformen von Antisemitismus sich auch gegen den Staat Israel richten können, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird.