Im englischen Sprachgebrauch ist ein "Cleaner“ eine Reinigungskraft der besonderen Art: Cleaners treten für gewöhnlich in Aktion, wenn die Spuren eines Verbrechens beseitigt werden sollen; allerdings nicht wie in der preisgekrönten deutschen NDR-Serie "Der Tatortreiniger" im Auftrag der Polizei, sondern als Teil einer kriminellen Organisation. Hans Block und Moritz Riesewieck werden das gewusst haben, als sie ihrem Dokumentarfilm "Im Schatten der Netzwelt" den Titelzusatz "The Cleaners" gegeben haben, und dank der kritischen Worte über Internet-Giganten wie Google und Facebook steht zudem außer Frage, wer in diesem Fall das organisierte Verbrechen ist.
Die beiden Autoren beschreiben die Arbeit der sogenannten Content-Moderatoren. Allein auf den Philippinen sind angeblich bis zu 150.000 Menschen damit beschäftig, jeweils 25.000 Bilder pro Tag aus YouTube, Facebook & Co. zu betrachten und alle Aufnahmen entfernen, die gegen die "Richtlinien" verstoßen; pro Bild haben sie acht Sekunden Zeit, um eine Entscheidung zu treffen.
Wie die Richtlinien aussehen, wird nie geschildert, womöglich gibt es auch gar keinen konkreten Kodex; die Arbeit scheint überwiegend aus dem Bauch heraus zu geschehen. Ein Großteil der "Säuberungsvorgänge" wird unproblematisch sein, wenn es sich beispielsweise um Fotos oder Filme von Kindesmissbrauch oder Gewalttaten handelt.
Viele Bilder stammen jedoch aus einer Grauzone, weshalb diese Arbeit nicht von einem Algorithmus erledigt werden kann, weil der beispielsweise kein Gespür für Satire hat. Andererseits bewerten die "Cleaners" alles, was sie sehen, vor ihrem eigenen muslimisch oder christlich geprägten moralischen Hintergrund, weshalb auch Manches gelöscht wird, was hierzulande anstandslos als Kunst betrachtet würde; etwa ein Gemälde, das Donald Trump mit kleinem Penis zeigt. Nackte Brüste und männliche Geschlechtsteile lösen bei den Reinigungskräften ohnehin einem umgehenden Löschreflex aus.
Das gleiche Schicksal ist einer der berühmtesten Fotografien des letzten Jahrhunderts widerfahren. Das Bild eines nackten vietnamesischen Mädchens, das bei einem Napalmangriff schwere Verbrennungen davongetragen hat, wurde nach internationalen Protesten wieder online gestellt.
"Im Schatten der Netzwelt" ist immer dann spannend, wenn Block und Riesewieck die Männer und Frauen bei ihrer monotonen Arbeit beobachten: "Löschen. Löschen. Ignorieren. Löschen." Von den Aufnahmen, um die es geht, ist allerdings nur wenig zu sehen. Das ist natürlich verständlich, weil diese Bilder auch nicht ins Fernsehen gehören, aber so bleibt der Gegenstand des Films etwas abstrakt, auch wenn die Autoren einige Fälle wie etwa das Trump-Gemälde oder das gleichfalls gelöschte Foto eines vermeintlich ertrunkenen Jungen herausgreifen und die jeweiligen Urheber aufgesucht haben. Das Kind ist ein Opfer des syrischen Bürgerkriegs, der Fotograf wollte die Menschen in aller Welt mit der Veröffentlichung des Bildes aufrütteln. Gleiches gilt für Aufnahmen von Bombeneinschlägen oder Explosionen, die ins Netz gestellt werden, um auf die Gräuel des Krieges hinzuweisen, von den "Cleaners" jedoch als mutmaßliche „IS“-Propaganda gelöscht werden.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Auf der Anklagbank sitzen aber nicht die Reinigungskräfte, sondern ihre eigentlichen Auftraggeber, die diese Aufgabe an Subunternehmer vergeben haben. Bei den Menschen, die sich vor der Kamera äußern, handelt es überwiegend um ehemalige Mitarbeiter; ihre Tätigkeit wurde nachgestellt. Den aktiven "Cleaners" ist es verboten, sich über ihre Arbeit zu äußern.
Block und Riesewieck zeigen zudem längere Ausschnitte aus öffentlichen Anhörungen, in denen Juristen der Internetkonzerne versichern, wie ernst ihre Arbeitgeber ihre Verantwortung nähmen. Ehemalige Führungskräfte klingen allerdings ganz anders und verdeutlichen, dass sich Facebook & Co. einen Dreck um diese Seite ihres Geschäfts scheren. Beispielhaft beschreiben die Autoren, wie sich Facebook den Forderungen der türkischen Regierung unterwirft, Erdogan-kritische Seiten zu löschen, um zu verhindern, dass das gesamte Portal dichtgemacht wird.
Ein weiterer Exkurs gilt dem Thema Fake News und beschreibt die Missstände in Myanmar. Dort findet eine regelrechte Hetzjagd auf eine Minderheit statt: erst in den Netzwerken, dann als Genozid in der Wirklichkeit.
Wenig zielführend sind dagegen die Ausflüge ins Privatleben der philippinischen Internetreiniger, selbst wenn Block und Riesewieck interessante Details zutage fördern: Die Mutter einer Reinigungskraft hatte ihre Töchter einst gewarnt, wenn sie nicht ordentlich lerne, werde sie als Müllsammlerin enden; nun tummelt sie sich täglich im nicht minder widerlichen Datenmüll.