Berlin (epd). Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat die Bundesländer aufgefordert, unabhängig vom erwarteten Gesetz zur bundesweiten Corona-"Notbremse" schon jetzt weitere Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu ergreifen. Er habe den Eindruck, die Länder warteten auf das Gesetz, sagte er am Donnerstag. Das soll für bundesweit einheitliche Regeln bei einer Sieben-Tage-Inzidenz über 100 sorgen. Das Agieren davor sei aber genauso wichtig, sagte Spahn und äußerte sich zudem alarmiert über die Situation auf Intensivstationen. Das Gesetz zur sogenannten Notbremse "alleine und das auch erst Ende nächster Woche inkrafttretend löst unser akutes Problem nicht", sagte er.
Fast 5.000 Covid-19-Patienten würden derzeit auf Intensivstationen versorgt, Intensivmediziner rechneten mit bis zu 6.000 Patienten am Ende dieses Monats, erklärte der Gesundheitsminister. "Schon jetzt können wir absehen, dass ohne einen Stopp dieser Entwicklung unser Gesundheitssystem an den Rand seiner Kapazität gelangen wird", mahnte er.
Deswegen forderte er die Länder jetzt zum Handeln auf. Sie hätten die Möglichkeit dazu, sagte er und schlug konkret Einschränkungen im Privatbereich vor, weil dort die meisten Infektionen passierten. Auch Schulschließungen seien eine Option, sagte Spahn.
Über die Änderung des Infektionsschutzgesetzes wird voraussichtlich am Mittwoch kommender Woche im Bundestag abgestimmt. Auch den Bundesrat muss das Gesetz dann noch passieren. Erstmals bekäme damit der Bund die Kompetenz, über pandemiebedingte Einschränkungen im privaten und öffentlichen Bereich zu entscheiden, für die grundsätzlich die Länder zuständig sind. Das Gesetz erlaubt das Einschreiten des Bundes, wenn die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen den Wert von 100 übersteigt. Aktuell liegt sie im bundesweiten Schnitt bei 160.
Um Details der "Notbremse" wird noch gerungen, etwa um die im Gesetzentwurf vorgesehenen nächtlichen Ausgangssperren. Spahn verteidigte die Maßnahme. Es gehe nicht darum, um 22 Uhr draußen allein unterwegs zu sein, sondern die Frage, von wo nach wo das der Fall sei. Das seien in aller Regel private Treffen, wo es zu Ansteckungen kommen könne. Studien zeigten, dass Ausgangsbeschränkungen ein wirksames Mittel seien, um solche Kontakte einzuschränken.
Umstritten ist auch die Regelung, nach der Schulen erst bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von 200 den Präsenzunterricht einstellen sollen. Der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, findet die Grenze nach eigenen Worten zu hoch. Durch die Tests an Schulen sei es bei den derzeit hohen Infektionszahlen zudem ohnehin zu erwarten, dass einzelne Schüler oder ganze Klassen dann in Quarantäne müssten. Auch Spahn sagte, er könne sich Schulschließungen bei einer Inzidenz deutlich unter 200 vorstellen.
Auch RKI-Präsident Wieler forderte insgesamt ein schnelles Einschreiten der Länder. "Klar ist, wir müssen jetzt handeln", sagte er. Gemeinsam mit Spahn und Wieler appellierte auch der Berliner Charité-Oberarzt Steffen Weber-Carstens, jetzt Kontaktbeschränkungen vorzunehmen. Man laufe "sehenden Auges in eine Spitzenbelastung" der Intensivstationen, die vielleicht sogar über der letzten kritischen Situation zum Jahreswechsel liegen könnte, sagte der Koordinator für die Versorgung der Covid-19-Patienten in Berlin. In vielen Regionen gebe es nur noch wenig freie Intensivkapazitäten.