Frankfurt a.M. (epd). Der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig sieht den bis zum 11. September geplanten Abzug der US-Truppen mit Sorge. Die radikal-islamischen Taliban seien in einer extrem starken Position, und die afghanische Bevölkerung müsse die Konsequenzen des Abzugs allein tragen, sagte der Co-Direktor des Afghanistan Analysts Network, dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Eine Machtübernahme der Taliban ist eine Gefahr für die Menschenrechte", warnte er.
"Mit ihrer Weigerung, am 24. April an der internationalen Afghanistan-Konferenz in Istanbul teilzunehmen, geben die Taliban zu verstehen, dass Frieden und eine Teilung der Macht nur zu ihren Bedingungen und nach ihrem Zeitplan kommen werden", erläuterte Ruttig. "Die Taliban nutzen ihre starke politische und militärische Position voll aus." Zu der Istanbul-Konferenz haben die Vereinten Nationen, die Türkei und Katar eingeladen.
Auch für die Bundeswehr werde der Einsatz am Hindukusch zu Ende gehen: "Die Nato hat keine Alternative, sie kann nur mit den Amerikanern abziehen, was die deutsche und die britische Regierung ja auch bereits erklärt haben", betonte Ruttig. Doch die Wahrung der Menschenrechte habe bisher zu wenig Gewicht bekommen. Weder die afghanische Regierungskoalition noch die westlichen Staaten hätten die Menschenrechte oben auf ihre Agenda gesetzt. "Zu den Friedensgesprächen wurden durchgehend die wichtigsten Warlords eingeladen, Menschen- und Frauenrechtlerinnen waren, wenn überhaupt dabei, deutlich in der Minderheit."
Dass die Taliban auf militärischem Weg versuchen könnten, die Macht in Afghanistan zu übernehmen, erwartet Ruttig nicht. "Damit würden sie sich international sofort isolieren - und das auch nach 20 Jahren westlichen Engagements extrem arme Land wird auch mit ihnen an der Macht von externen Zuschüssen abhängig sein."
In die starke Position kamen die Taliban laut Ruttig auch durch den Friedensdeal mit den USA unter dem damaligen Präsident Donald Trump vom Februar 2020. Darin hatte Trump den Abzug der Truppen bis Ende April 2021 zugesagt, unter der Bedingung, dass innerafghanische Friedensverhandlungen aufgenommen werden. Doch diese Gespräche in Doha stocken. Nun plant der neue US-Präsident Joe Biden den vollständigen Abzug bis 11. September. Die offizielle Bekanntgabe durch Biden wurde im Lauf des Mittwoch erwartet.