Berlin (epd). Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, hat angesichts wachsender Kritik an der deutschen Corona-Politik um Verständnis für die Verantwortlichen geworben. "Alle freiheitlichen Gesellschaften haben in der Pandemie mit kolossalen Herausforderungen zu kämpfen, und natürlich ist jeder Fehler einer zu viel", sagte Harbarth den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Freitag). "Wenn man aber unter Zeitdruck und unter Unsicherheit entscheiden muss, besteht immer die Gefahr von Fehlern."
Die Verantwortlichen müssten ihre Entscheidungen mit dem Kenntnisstand von heute treffen. Die Bewertung dieser Entscheidungen erfolge dann aber oft einige Wochen später auf Grundlage eines ganz anderen Kenntnisstandes. "Rückblickend mag dann als Fehler erscheinen, was man in der konkreten Entscheidungssituation vielleicht gar nicht wirklich hätte besser machen können", sagte der Jurist. Zur Kritik an den Konferenzen der Regierungschefs von Bund und Ländern sagte Harbarth, die Notwendigkeit einer raschen Reaktion auf neue Entwicklungen erfordere auch Handlungsspielräume für die Regierungen. "Sind die Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern aufgeteilt, so führt bei lebensnaher Betrachtung kein Weg an einem Koordinierungsgremium vorbei."
Zugleich wies er pauschale Kritik am föderalen System der Bundesrepublik zurück. "Frankreich kennt keinen Föderalismus und kommt mit seinem zentralstaatlichen Ansatz bisher schlechter durch die Krise als Deutschland", betonte der Verfassungsrichter. "Auch bei uns wäre in den vergangenen Jahrzehnten nicht automatisch alles besser geworden, wenn jede Detailentscheidung für den Schwarzwald, das Ruhrgebiet oder die Ostseeküste in Berlin getroffen worden wäre." Doch möge es Konstellationen geben, in denen ein bundesweit einheitliches Vorgehen sinnvoller sein könne als föderale Vielfalt, räumte Harbarth ein.
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