Früher gehörte es gewissermaßen zur Arbeitsplatzbeschreibung, dass die Ehefrauen von Kaisern und Königen im Schatten des Gatten standen. Deshalb kennen die meisten Deutschen, wenn überhaupt, zwar den Namen des letzten hiesigen Kaisers, aber seine Frau Auguste Victoria ist weitgehend in Vergessenheit geraten, obwohl viele Schulen, Krankenhäuser und Stiftungen ihren Namen tragen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Ähnlich wie heutige "First Ladies" setzte die protestantische Kaiserin mit ihrem sozialen Engagement nachhaltige Akzente. Viele ihrer Initiativen tragen nach wie vor Früchte. Unter ihrer Schirmherrschaft wurde beispielsweise 1899 die Evangelische Frauenhilfe in Deutschland gegründet. Der Verband bot Frauen die Gelegenheit, sich uneigennützig zu betätigen. Was aus aktueller Sicht kaum der Rede Wert zu sein scheint, war vor über 120 Jahren außergewöhnlich: Frauen spielten im gesellschaftlichen Leben keinerlei Rolle. Eine weitere wichtige Schirmherrschaft galt dem Evangelisch-Kirchlichen Hilfsverein zur "Bekämpfung des religiös-sittlichen Notstands". Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, berichtet die Theologin und Auguste-Victoria-Biografin Angelika Obert in der Dokumentation, hätten manche Gemeinden bis zu 100.000 Mitglieder gehabt, und so startete ein umfangreiches Kirchbauprogramm. Allein in Berlin sind auf diese Weise Dutzende neue Kirchen entstanden. Wie ernst Kaiserin ihre Aufgabe genommen hat, zeigt die Tatsache, dass sie nicht nur die Entwürfe für jede einzelne Kirche genehmigt, sondern sich auch um die Finanzierung gekümmert habe.
Natürlich berücksichtigt Autorin und Regisseurin Annette von der Heyde in ihrem Film auch die Zeitläufte. Das Kaiserreich wandelte sich in jener Zeit vom Agrarland zur Industrienation, Berlin erlebte einen rasanten Bevölkerungsanstieg, viele Menschen lebten in prekären Verhältnissen. Die Kaiserin war bestürzt und half, wo sie konnte, jedoch innerhalb klarer politischer Grenzen: Theologin Obert bescheinigt ihr zwar ein soziales Gewissen, aber an einer Veränderung der Verhältnisse sei sie nicht interessiert gewesen - "Almosen statt Hilfe zur Selbsthilfe". Das Porträt ist ohnehin keine reine Hommage. Beim Volk erfreute sich Auguste Victoria enormer Beliebtheit, doch die Autorin sowie ihre klug ausgesuchten Expertinnen und Experten verhehlen nicht, dass die Kaiserin auch unangenehme Charakterzüge hatte. So sorgte sie unter anderem dafür, dass ihr Bruder keine Ehe mit einer französischen Katholikin eingehen konnte; "Mischehen" hielt sie für Verrat am Glauben.
Die Monarchie betrachtete die Kaiserin dagegen als gottgewollt und den Ersten Weltkrieg als "eine Art Gottesurteil": Krieg war für sie ein legitimes Mittel der Politik. Bis zu ihrem Tod war sie überzeugt, dass ihr Mann die Novemberrevolution im Jahr 1918 blutig hätte niederschlagen lassen müssen. Mit dieser Haltung trug sie paradoxerweise zum eigenen Untergang bei: Hätte sie sich nicht vehement gegen jede Form von Demokratisierung gewehrt, hätte Wilhelm II. vielleicht nicht abdanken müssen, weil der Reichstag womöglich eine repräsentative Monarchie geduldet hätte. Später war auch daran nicht mehr zu denken: Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg forderten die alliierten Siegermächte den Kopf des mit seiner Gattin im niederländischen Exil lebenden Kaisers.
Christoph Röhl hat diesen Niedergang vor einigen Jahren in dem Dokudrama "Kaisersturz" geschildert (der Film steht in der ZDF-Mediathek); Annette von der Heyde bedient sich bei dieser Produktion, um ihren Film durch Spielszenen zu ergänzen. Röhl konzentrierte sich naturgemäß auf den von Sylvester Groth verkörperten Kaiser. Auguste Victoria wurde von Sunnyi Melles gespielt, die sich zum Glück bereit erklärte, für einige ergänzende Szenen ein zweites Mal in die Rolle der Kaiserin zu schlüpfen. Weil sich die Regisseurin anders als Röhl aber nicht nur mit den letzten Jahren beschäftigt, brauchte sie noch eine Darstellerin für die junge Auguste Victoria; deren Besetzung mit Melles-Tochter Leonille Wittgenstein erweist sich als weiterer Glücksfall. Abgerundet wird der sehenswerte Film durch diverse von großer Kinomusik untermalte zeitgenössische Ausschnitte sowie aktuelle Aufnahmen von den Originalschauplätzen.