In ihrer "37 Grad"-Reportage mit dem treffenden Titel "Wisch und weg" befassen sich Tina Soliman (Buch) und Torsten Lapp (Kamera und Regie) mit Tinder. Die App funktioniert wie eine Partnervermittlung, nur einfacher: Man gibt so viel von sich preis, wie man möchte, und dann zeigt Tinder die Profile der Menschen in der Umgebung. Der Rest funktioniert nach der Aschenputtel-Devise "Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen": Wer als Kandidat oder Kandidatin nicht in frage kommt, wird auf dem Smartphone nach links in den digitalen Orcus gewischt; wer gefällt, bekommt einen Wisch nach rechts. Hat der- oder diejenige auf das Profil des Nutzers ebenfalls positiv reagiert, kommt es zu einem sogenannte Match, einer Übereinstimmung; dann kann man Nachrichten austauschen. Der zeitraubende Vorgang vom Suchen und Finden der Liebe wird somit auf wenige Sekunden reduziert. Das ist praktisch. Aber ist es auch der Sinn der Sache? Und das ist die Frage, um die sich "Wisch und Weg" dreht.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Wie stets bei "37 Grad" verdienen die drei Protagonistinnen, die sich Soliman und Lapp als Zeuginnen in eigener Sache zur Verfügung gestellt haben, größten Respekt, zumal es bei allen Dreien nicht zuletzt um Enttäuschungen geht. Wie nahezu alle Errungenschaften der Digitalisierung hat auch Tinder seine Schattenseite. Dafür hat sich der Begriff "Ghosting" eingebürgert: Es gab ein Match, man hat ein wenig hin und her geschrieben, sich womöglich auch getroffen. Eine der drei Frauen hat mit einem Mann einen Urlaub verbracht, alles sah nach der großen Liebe aus – und dann hat er den Kontakt abgebrochen. Nachrichten liefen ins Leere, es kamen keinerlei Antworten mehr. Sehr offen berichten die Frauen, wie es sich anfühlt, wenn man wortlos entsorgt wird.
Während es in den Kommentaren der "37 Grad"-Filme sonst meist darum geht, was die Menschen vor der Kamera denken und fühlen, sinniert Soliman über die modernen Zeiten und ergänzt die Aussagen ihrer Kronzeuginnen um wichtige Hintergrundinformationen. "Wisch und Weg" ist daher ein eher unüblicher Beitrag und fast mehr Dokumentation als Reportage, zumal die drei Frauen für ein Phänomen stehen: Es gibt 18 Millionen Single-Haushalte in Deutschland, aber Dating-Apps wie Tinder, resümiert Soliman schon zu Beginn des Films, seien nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. "Drum prüfe, wer sich ewig bindet", dichtete Friedrich Schiller einst im "Lied von der Glocke". Der Volksmund hat prompt ergänzt: "ob er nicht noch ’ne Bess’re findet." Viele Tinder-Nutzer wollen anscheinend allenfalls eine kurze Bindung und handeln damit exakt im Sinn der App-Betreiber. Deren Geschäftsmodell basiert auf der Hoffnung, dass einem jederzeit noch ein perfekteres "Match" über den Weg laufen könnte; suchen macht süchtig.
Soliman und Lapp ist es tatsächlich gelungen, auch jenen "Ghoster" vor die Kamera zu bekommen, dessen Schweigen bei einer der Frauen eine Art Retraumatisierung zur Folge hatte: Sie ist als Kind von den Eltern zur Adoption freigegeben worden. Ihr Selbstvertrauen sei nie besonders ausgeprägt gewesen, sagt sie; nach dem Abtauchen des Mannes sei das tief verwurzelte Gefühl, nicht gewollt zu sein, zurückgekehrt. Einer zweiten Frau mit nach eigener Aussage deutlich gefestigterem Selbstbewusstsein ist es ähnlich ergangen: Das unerklärliche Schweigen, ohnehin ja bestürzend und kränkend, habe ihr Urvertrauen erschüttert. Auch dafür gibt es einen Begriff: Psychologen sprechen von einer posttraumatischen Verbitterungsstörung. Dank der Stellungnahme des "Ghosters" kann Soliman immerhin erklären, warum Männer und Frauen so etwas tun; das Schweigen ist gewissermaßen das Tinder-Pendant zum Beenden einer Beziehung per SMS.
"Wisch und weg" fällt jedoch nicht nur wegen des anspruchsvoll formulierten Kommentars, sondern auch in ästhetischer Hinsicht aus dem Rahmen: Optisch verfremdete und ebenfalls wie "verwischt" wirkende Zwischenspiele lassen darauf schließen, dass Soliman und Lapp keinen der üblichen "37 Grad"-Beiträge im Sinn hatten. Die Autorin ist außerdem mehrfach als Fragestellerin zu hören und am Schluss, als sie mit einer der Frauen ein abschließendes Videointerview führt, sogar zu sehen. Das könnte die Redaktion ruhig öfter zulassen, schließlich basieren sämtliche Filme der Reihe auf dem Vertrauen, das zwischen den Menschen vor und hinter der Kamera entstanden ist.